Tim Guldimann - Debatte zu Dritt

«Hannah Arendt und Jeanne Hersch - Ist ihre politische Philosophie durch Trump und die AfD wieder aktuell geworden?» - mit Winfried Kretschmann und Ruth Dreifuss

Tim Guldimann

Hat der Rechtspopulismus die Philosophie von Hannah Arendt und Jeanne Hersch wieder aktuell gemacht? – Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg: «Das kann man schon sagen. (..) Freiheit ist ein Zentralbegriff bei beiden. (..) Hannah Arendt sagt: ‘Der Sinn von Politik ist Freiheit‘ und Jeanne Hersch: ‘Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung‘ (..) Wir (sind heute) in einer Freiheitskrise (..) Wie kann es sein, dass in der ganzen Welt auf einmal autoritäre Regime und Schlimmeres an Popularität und Zustimmung gewinnen. Jeanne Hersch (.. sagte), dass die Menschen müde geworden sind an der Freiheit. Wenn man Freiheit als Verantwortung versteht, ist es im Kern ein Aushandlungsprozess, der ist anstrengend und macht müde (..). Da entsteht die Sehnsucht: Jetzt wollen wir mal einen haben, der einfach sagt: So wird’s jetzt gemacht, Ende der Durchsage.»

Ruth Dreifuss, frühere Bundespräsidentin, entgegnet: «Ich glaube nicht an die Müdigkeit von Demokratie. Ich glaube einfach, dass die Demokratie ihre Versprechen nicht eingehalten hat, die Versprechen der grösseren Gleichstellung aller Menschen.» – Kretschmann: «Da kann ich nicht mitgehen (..) Die AfD hat in Baden-Württemberg vor acht Jahren aus dem Stand 15 Prozent geholt. Da hatte ich die besten Sozial- und Wirtschaftsdaten aller Zeiten. Der Trigger des ganzen Rechtspopulismus ist erstmal die Migrationsfrage. (..) Die sozialen Konflikte sind in der Regel vertikal, und die Rechtspopulisten kippen das in die Horizontale (..): Wir da drinnen, ihr da draussen.»

Ist die heutige Entwicklung mit 1933 vergleichbar, ein «déjà-vu»? – Kretschmann: «In jedem Fall gibt es Parallelen, aber es gibt auch Unterschiede.(..) Der Nationalismus ist das gefährlichste Gift der Moderne. (..) Als Deutsche (sehen wir) den überragenden Zivilisationsbruch durch die Nazis als den Gründungspunkt, aber das ist nicht richtig, der Nationalismus ist älter, (..) auch der Rassismus war schon vor Hitler weit verbreitet.»

Dreifuss: «Jeanne Hersch hat immer  unter dem Trauma des Jahres 33 gelitten (..) und hat auch gesagt: ‘Es kann immer wieder kommen‘. (..) Amerika lebt zurzeit den Versuch eines Staatsstreichs, eine Zerstörung des Gleichgewichts der Gewaltentrennung, einen Angriff auf andersdenkende Menschen (..) und ein Wiederaufkommen eines Rassismus ohne Hemmung. (..) Der französische Historiker Johann Chapoutot zeigt auch den Zusammenhang (.. mit dem) Big Business, in diesem Fall ist es nicht Kohle und Stahl, aber die Internetwelt. Diese Beherrscher einer neuen Technologie zählen auf Trump, so wie die Herren von Stahl und Kohle auf Hitler gesetzt und geglaubt haben, sie werden ihn manipulieren und in drei Monate waren diese Herren entwaffnet. (..) Faschismus setzt man (auch) immer in Zusammenhang mit Schlägern (..) Man hat es gesehen im Sturm auf das Kapitol».

Kretschmann: «Die Gefahr ist und das ist eine echte Parallele, (..) wenn Tatsachenwahrheiten einfach geleugnet werden (..) und man es hinnimmt. (..) Ein Teil der amerikanischen Bevölkerung weiss, dass Trump lügt, nimmt es aber hin. Wenn (die Wahrheit), eine so fundamentale Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, nicht hart verteidigt wird, dann kommt etwas ins Rutschen und dann ist alles in Gefahr. Das hat uns Hannah Arend in fundamentaler Weise erläutert. (..) Die Demokraten müssen an einem Punkt eisern zusammenhalten: (..) Die Verteidigung von Tatsachenwahrheiten, die Verteidigung der Freiheit der Wissenschaft. (..) Der intakte öffentliche Raum ist für Hannah Arendt quasi das Zentrum der Demokratie.»

Dreifuss: «Die Social Media erlauben wirklich, dass jeder für sich in einer kleinen Bubble lebt und nur die Informationen bekommt, die für ihn gezielt ausgesendet werden. (..) Die öffentliche Meinung ist nicht mehr der Ort, wo man zusammen Lösungen sucht (..)Jeder für sich hat seine Wahrheit, die keine Wahrheit ist, sondern manipuliert werden kann. Das öffnet den Weg zum Totalitarismus.»