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Ep. #5 | Dialektischer Materialismus (Theorie)

December 08, 2021 linke theorie
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Ep. #5 | Dialektischer Materialismus (Theorie)
Show Notes Transcript

In dieser fünften Folge sprechen wir über eine der beiden Säulen marxistischer Philosophie: den dialektischen Materialismus. Dabei klären wir nicht nur die Begriffe Materie, Bewusstsein, Materialismus und Dialektik, sondern erklären auch die materialistische Dialektik und die in ihr enthaltenen Gesetze von Natur, Gesellschaft und Denken. Nicht erschrecken, es bleibt dieses Mal ein wenig abstrakt. In der kommenden Theoriefolge machen wir es dann am Beispiel der Gesellschaft und mit dem historischen Materialismus etwas konkreter.
 
Kleine Korrektur: Im Podcast sagen wir, dass der Ausdruck »Hegel vom Kopf auf die Füße« zu stellen von Marx wäre. Da hat sich ein kleiner Fehler eingeschlichen, gesagt hat es Engels.

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Hier findet ihr unsere Transkripte zu den einzelnen Folgen.

Weiterlesen:
Engels: Dialektik der Natur.
Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring).
Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.
Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie.
Fiedler/Friedrich/Richter/Ruhnow/Steußloff (Hrsg.): Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium.
Sorg: Dialektisch Denken.
Mandel: Einführung in den Marxismus.

- Musik wird eingespielt – 

(L) Herzlich willkommen zur neuen Folge von linketheorie, dem Podcast wo wir über den Kapitalismus reden, was an ihm schlecht ist und wie wir ihn überwinden können.

(Y) Wie so oft gibt es einen Theorie-Input. Wir fangen nämlich heute an, darüber zu reden, wie Marxist*innen die Natur, die Gesellschaft und den Menschen betrachten. Dafür erklären wir, was der dialektische Materialismus ist. In unserer kommenden Theorie-Folge gehen wir dann auf den historischen Materialismus ein. Die beiden Themen sind eng verbunden, aber um die Folge nicht zu lang zu machen, haben wir uns entschieden sie etwas zu trennen.

(L) Um diese beiden Pfeiler der marxistischen Philosophie gibt’s wie – ja – auch häufig in anderen Themen, eine lange hitzige Debatte. Uns geht’s an dieser Stelle aber um eine auf die Praxis angelegte, die Analyse und das Handeln anleitende Darstellung der marxistischen Philosophie. Wer sich in Kontroversen verlieren möchte, hat im Anschluss die Gelegenheit dazu. Für die meisten Revolutionär*innen dürfte das aber nicht so notwendig sein. 

(Y) Wir beginnen mit ´ner Einführung und fragen auch „Warum ist das überhaupt wichtig? Warum sollte man sich mit marxistischer Philosophie auseinander setzen und nicht einfach direkt in die ökonomischen Themen einsteigen?“. Als erstes würden wir sagen, gibt es einen Unterschied zwischen ´ner politischen Meinung und einer wissenschaftlichen, politischen Analyse. So ´ne politische Meinung ist relativ schnell gemacht. Dafür braucht man nicht viele Informationen, man braucht auch nicht besonders viel Wissen. ´Ne politische Meinung kann man sich schnell bilden. Der Marxismus hat aber den Anspruch, eine wissenschaftliche und politische Analyse zu bieten. Um dahin zu kommen ist es wichtig, ein grundlegendes Verständnis dafür zu gewinnen, was die Natur und die Gesellschaft ausmacht und nach welchen Logiken und Prinzipien sie funktionieren. 

(L) Die Grundgesetze und Begriffe der marxistischen Philosophie sind relativ abstrakt, was ihr wahrscheinlich auch schnell merken werdet, aber sie können uns dabei helfen, ja scheinbar unzusammenhängende Phänomene besser zu interpretieren und für uns in eine einheitliche Analyse einordnen zu können. Und gerade das wird dann in der nächsten Folge dann nochmal deutlicher, wenn wir auf den historischen Materialismus eingehen, wo´s dann eben darum geht, wie man diese Analyse – ja – oder dieses Denken nutzbar machen kann, um historische Prozesse, um die Gesellschaft und Vorgänge dann besser zu verstehen. 

(Y) Wir wollen an der Stelle noch ´nen dritten Punkt stark machen. Die Philosophie und das akademische Denken werden ja häufig zu Recht für ihre Überheblichkeit und ihre Elfenbeinturm-Einstellung kritisiert. Auch der dialektische und der historische Materialismus sind häufig abstrakt und abgehoben, oder klingen zumindest so. Die marxistische Philosophie versucht aber explizit aus der Realität über die Realität zu denken und Erkenntnisse zu gewinnen, um die Realität zu verändern. Wir versuchen es im Folgenden möglichst einfach zu halten, aber entschuldigt bitte, wenn wir manchmal trotzdem ein bisschen Philosophisch klingen.

(L) Wenn ihr uns also an manchen einzelnen Stellen nicht folgen könnt, dann macht euch nicht allzu große Sorgen, klar ihr könnt das natürlich nochmal hören, oder ansonsten hört ihr einfach weiter und versucht das was ihr mitnehmen könnt, mitzunehmen und vielleicht wird es euch dann in den nächsten Folgen, in der Gesprächsfolge dazu, oder in der Folge zum historischen Materialismus klarer und ihr könnt zumindest die Zusammenhänge verstehen.

(Y) Wir beginnen mal mit ´ner ganz allgemeinen Definition davon, was Philosophie überhaupt ist. Die Philosophie ist ´ne Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, in der die Anschauung von der Welt als Ganzes und von der Stellung des Menschen in ihr zusammen gefasst sind. Das heißt, es geht darum, wie wir über die Welt denken und wie wir darüber denken, was der Mensch in dieser Welt ist und machen kann. Diese Philosophie begründet unsere Weltanschauung, das heißt sie begründet, wie wir die Welt betrachten. Philosophie und Weltanschauung sind dabei keine Besonderheiten von Philosoph*innen, denn jede und jeder hat eine Weltanschauung, alle haben eine Ideologie. Der Marxismus versucht aber, diese Ideologie und diese Weltanschauung auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen.

(L) Die Grundfrage jeder Philosophie ist zunächst mal, in welchem Verhältnis das Denken zum Sein steht. Ist das Sein und die Natur das Ursprüngliche und leitet sich das Denken davon ab, oder bringt unser Denken erst die Welt um uns hervor? Daran schließt sich dann eine zweite weitere Frage an. Nämlich: können wir die Welt so, wie sie ist überhaupt erkennen?

(Y) Das Verhältnis vom Denken zum Sein also und die Erkennbarkeit von Welt stehen im Zentrum von der Philosophie. Das klingt, wie wir schon gesagt haben, erst mal relativ abstrakt und auf ´ner ziemlich hohen Ebene, aber die Antworten, die wir auf diese Fragen geben, beeinflussen direkt wie wir andere Fragen beantworten und wie wir an andere Fragen herangehen. Zum Beispiel folgt daraus auch unsere Antwort auf die Frage, welchen Logiken die Geschichte der Gesellschaft folgt und wie viel Freiheit wir Menschen in dieser Geschichte haben. Aber es beeinflusst zum Beispiel auch, wie wir an politische Kämpfe herangehen. Glauben wir zum Beispiel, dass das Denken der Menschen direkt, oder dass unsere Umwelt verändert werden muss, um Ausbeutung und Diskriminierung abzuschaffen? Das ist ja auch ´ne relativ große Frage aktuell im politischen Diskurs. 

(L) Es gibt jetzt zwei ganz große Grundrichtungen. Zum einen der Materialismus und auf der anderen Seite der Idealismus. Und die unterscheiden sich jetzt eben vor allem darin, was sie für Antworten auf diese Grundfrage, dieses Verhältnisse von Denken und Sein – ja – was sie für Antworten auf diese Frage geben. Wer meint, dass die materielle Welt das Ursprüngliche ist, aus dem sich unser Bewusstsein dann erst ableitet, den oder die nennt man Materialist*in. Wer im Gegenzug dazu meint, dass die materielle Welt nur ein Produkt unseres Bewusstseins und Denkens ist, diese Person nennt man Idealist*in. 

(Y) Ihr merkt schon, mit den Begriffen „Materialismus“ und „Idealismus“ sind wir relativ weit weg von dem Sprachgebrauch dieser Wörter im Alltag. Es geht u die philosophische Bedeutung. Wenn wir vom Materialismus sprechen, geht es also nicht darum, dass jemand viel Wert auf Besitz legt. Und wenn wir von Idealismus sprechen, geht´s auch nicht darum, dass Menschen eine Idee umsetzen möchten, oder besonders idealistisch in ihren Zielen sind. Es geht einfach darum: Was wird als das Ursprüngliche angesehen? Die materielle Welt, oder unser Bewusstsein? Kommen wir zum zweiten Punkt. Was ist überhaupt Materie und was ist der Materialismus? Die Annahme, dass die Materie das Ursprüngliche ist und materialistische Philosophien sind schon relativ alt. Zeugnisse finden sich davon in altchinesischen und altindischen Philosophien. Auch im alten Griechenland waren materialistische Philosophen davon überzeugt, dass die Materie das Ursprüngliche ist. Bei ihnen gab´s aber eine Ursubstanz, die die gesamte Materie ausmacht, zum Beispiel Wasser, oder Feuer. Aber es gab auch damals schon Ideen von unteilbaren Teilchen als Baustein der Materie, sogenannten Atomen. Zum Beispiel bei Demokrit und Epikur, mit denen sich Marx auch in seiner Dissertation auseinandersetzte. Der bürgerliche Materialismus im 17. Und 18. Jahrhundert sah dann Materie an als alles Stoffliche, das eine Ausdehnung, eine Gestalt und Masse besitzt, das undurchdringlich ist und sich bewegt. Der französische Materialismus – zum Beispiel Diderot – ging davon aus, dass sie Materie die Gesamtheit dessen ist, was auf die Sinnesorgane des Menschen wirkt und seine Empfindungen hervorruft. 

(L) Dieser vormarxistische Begriff von der Materie schafft es aber nicht das gesellschaftliche Leben zu erfassen und mit dem gesellschaftlichen Leben ist gemeint die praktische Tätigkeit von Menschen – da können wir uns irgendwie Arbeit oder Reproduktion vorstellen – und zum anderen ihre geistige Tätigkeit, dazu gehört dann eben das Philosophieren, oder auch Ideologien. 

(Y) Wichtige marxistische Denker, wie Marx, Engels und Lenin versuchen diesen Materiebegriff dann zu erweitern. Bei ihnen umfasst der Materiebegriff jetzt alle Bereiche und Entwicklungsformen der Materie, einschließlich des sogenannten „gesellschaftlichen Seins“. Das heißt hier wird über den stofflichen Materiebegriff hinausgegangen und der Blick auf die Gesellschaft gerichtet. Als das Materielle wird jetzt alles gefasst, was objektiv real ist: Dinge, Prozesse, sowie auch Beziehungen und Verhältnisse in Gesellschaften. Materie ist dann im Prinzip all das, was außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein existiert. Allerdings gibt es „die Materie“ als solches natürlich nicht, die wir direkt über unsere Sinne wahrnehmen können. Der Begriff der Materie ist selbst ´ne Abstraktion. Die Materie existiert nämlich nur durch ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen hindurch, die sich ständig bewegen, verändern, entwickeln und so weiter. Die Materie gibt es nicht an sich, es gibt nur Tische, Stühle und das gesellschaftliche Sein. Der Materiebegriff ist also hier, genau wie der Materialismus- und der Idealismusbegriff kein naturwissenschaftlicher, sondern ein philosophischer. Weil er die Materie an sich meint, ohne nähere Bestimmung. 

(L) Was jetzt aber das Besondere ist, am marxistischen Materiebegriff: er denkt die Bewegung der Materie mit. Bewegung ist in diesem Verständnis eine Grundeigenschaft der Materie. Er besagt also, dass sich Materie in ständiger Bewegung befindet. Diese Bewegung ist nicht nur irgendwie ´ne Eigenschaft,  die die Materie hat, sondern ihre spezifische Weise zu existieren. Also Bewegung geschieht durch innere Widersprüche, als Selbstbewegung. Darauf gehen wir dann gleich noch mal bei materialistischer Dialektik drauf ein. 

(Y) Wir haben´s also auch bei der Bewegung wieder mit einem philosophischen Begriff zu tun. Es geht, wenn von „Bewegung der Materie“ gesprochen wird, nicht um die einfache Bewegung nach vorne, nach hinten, rechts oder links, sondern es geht um die Veränderung überhaupt. Also dass Materie sich – wie du schon sagst – in ständiger Veränderung auch befindet. Ständige Veränderung heißt natürlich nicht, dass alles sich ständig ändert, sonst gäb´s ja keine Stabilität. Das heißt zwischendrin gibt es immer eine relative Ruhe, die einsetzt, aber die Grundaussage ist: im Allgemeinen wird die gesamte Materie von Veränderung betroffen und ist selbst Veränderung. Und das Ganze – darauf gehen wir, wie du auch schon gesagt hast, später nochmal ein – wird durch innere Widersprüche getragen. Wenn wir von Materie sprechen, müssen wir natürlich auch auf den Gegenbegriff eingehen und zwar das Bewusstsein. Denn die Grundaussage einer materialistischen Philosophie ist ja, dass die Materie oder das Sein, das Bewusstsein bestimmt. Also, was ist das Bewusstsein? Hier auch wieder: das Bewusstsein wird als philosophischer Begriff verwendet und wird im Verhältnis zur Materie bestimmt. Das Bewusstsein ist dann die sogenannte „ideelle Widerspiegelung der objektiven Realität, beziehungsweise der Materie“. Das heißt, die Widerspiegelung im Geist der Menschen, der objektiven Realität und der Materie. Der Bewusstseinsbegriff umfasst also das Erkennen der objektiven Realität, durch unsere Sinne – hören, schmecken, riechen und vor allem sehen – und den Verstand. Unsere Empfindungen, unsere Vorstellungen, unsere Begriffe und auch unsere Urteile, die wir entwickeln und sogar komplexe Theorien. 

(L) Das Bewusstsein ist in dreifacher Weise von der Materie abhängig. Erstens ist es abhängig von der Materie in ihrer Entstehung. Das bedeutet, dass es Materie ja schon gab, bevor es das Bewusstsein gab und auch unabhängig davon. Also bevor sich ein Bewusstsein überhaupt gebildet hat, zum Beispiel in einem Tier, muss es die stofflichen Eigenschaften dafür geben, die zum Beispiel ein Gehirn herausgebildet haben. Das Bewusstsein entstand erst als Ergebnis einer langen Entwicklung, in der Natur und bei den Lebewesen, beziehungsweise Gesellschaften, etwa durch Arbeit. Zweitens ist das Bewusstsein auch abhängig von der Materie, damit es überhaupt funktionieren kann. Also nicht nur, dass es vorher Materie gab, sondern auch, dass es jetzt diese Materie gibt, also das Gehirn, das zentrale Nervensystem. Das Bewusstsein kann nicht außerhalb von unserem Körper existieren. Und drittens ist das Bewusstsein abhängig von der Materie in der Entstehung der Inhalte des Bewusstseins. Damit ist gemeint, dass die Inhalte unseres Denkens durch die Materie um uns herum bestimmt sind. Wir kennen vielleicht den bekannten Satz „das Sein bestimmt das Bewusstsein“, das sagt so ungefähr das aus, dass das Bewusstsein sich ja auch im Austausch mit der Umgebung, mit den materiellen Bedingungen befindet und auch nur so sich herausbildet und dadurch bestimmt wird von den materiellen Verhältnissen, von dem Sein. 

(Y) Gleichzeitig müssen wir aber aufpassen. Das Denken ist selbst nicht etwas Materielles, sondern ist etwas Ideelles. Denn dem Denken selbst kommt keine Materialität zu. Das Denken entsteht in der Materie, aber ist selbst eben ideell. Grade weil das aber so ist, bekommt das Denken auch ´ne relative Selbstständigkeit gegenüber der Materie und so kann der Mensch zum Beispiel der praktischen Tätigkeit voraus sein und sein eigenes Handeln planen, bevor dieser Plan in der materiellen Umwelt ist. Das können wir auch nochmal besser mit dem Materie-Begriff von Marx, Engels und Lenin verstehen, die ja eben auf die Gesellschaftlichkeit hingewiesen haben. Denn das Bewusstsein ist auch gleichzeitig auch eine gesellschaftliche Erscheinung. Es entsteht bei den Einzelnen durch die Gesellschaft, wird durch die Gesellschaft ausgeformt und entwickelt sich überhaupt erst in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Sein. Das hatten wir in der Vergangenheit schon mal angesprochen. Wenn wir ein kleines Kind irgendwo in der Natur aussetzen würden, dann wäre dieses Kind hilflos und würde sein Bewusstsein gar nicht richtig ausbilden, denn das Bewusstsein bildet sich in der Verbindung mit der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Sein aus. Wir haben also geklärt, was Philosophie ist, wir wissen was Materie und der Materialismus ist und wir wissen auch, was das Bewusstsein ist. Jetzt im dritten Teil wollen wir darauf eingehen, was genau ist die materialistische Dialektik?

(L) Der Begriff der Dialektik hat eine lange Tradition, die wir hier nicht aufwickeln werden. Wir werden an dieser Stelle auch nicht explizit auf die hegelsche Dialektik eingehen. Wir drücken uns außerdem um die Frage, ob Hegels Dialektik – wie Marx sagt – eine idealistische Dialektik war, oder ob – wie Lenin meinte – bei Hegel der Materialismus schon fast mit den Händen zu greifen ist. Außerdem werden wir nicht auf die Varianten eingehen, was Marx jetzt genau mit Hegels Dialektik gemacht hat. Ob er sie vom Kopf auf die Füße gestellt hat – wie Marx es selbst bezeichnet hat – oder ob er sie umstülpte, oder ganz veränderte. Das sind Fragen für eine andere Stelle, die wir hier nur andeuten wollen. 

(Y) Der Frage, was genau dialektisches Denken ist, können wir uns am besten nähern, indem wir überlegen, was Metaphysik ist und was formale Logik ist. Metaphysik bezeichnet bei marxistischen Autor*innen ein Denken, das den Dingen in der Welt ein festes, abgrenzbares Sein zuspricht. Eine Essenz, die in ihnen liegt, die klar und fest ist. Die formale Logik folgt einem Denken, dass A immer A ist, aber niemals etwas anderes, zum Beispiel B sein kann. Also, die Identität von Dingen. Ein Tisch ist immer ein Tisch und kann nicht zu etwas anderem werden, oder kann nicht gleichzeitig etwas anderes sein. Für die formale Logik gibt´s also auch keine Entwicklung und vor allem keine Widersprüche. In der Realität kann´s oft praktisch und pragmatisch sein, uns allem Bestehenden so zu nähern, dass wir sie als ein ruhiges und bleibendes Sein verstehen. Ein Tisch ist und bleibt eben ein Tisch, meine Eltern sind und bleiben, so wie sie sind und auch unsere Gesellschaft ist eben kapitalistisch und bleibt es auch. Dieses Denken der formalen Logik und der Metaphysik stoßen aber auf Schwierigkeiten, wenn wir zum Beispiel die Verwandlung einer Larve in einen Schmetterling betrachten, den Alterungsprozess von Menschen, oder die Bewegung vom Leben zum Tod. Denn hier geht´s um ´ne Bewegung, um ´ne Veränderung und dass eben Dinge, die im einen Moment noch so sind, plötzlich ein anderes Sein haben. Die Welt dialektisch zu verstehen, bedeutet also mitzudenken: erstens, dass alles was ist, sich in ständiger Bewegung und Veränderung befindet und zweitens, dass diese Bewegung durch innere Widersprüche in dem was ist, hervorgebracht wird. 

(L) Dialektik in dem philosophischen Sinn, wie wir sie im dialektischen Materialismus wiederfinden, hat zwei Aspekte: erstens diesen zeitlichen Aspekt als Entwicklung und zweites einen strukturellen Aspekt, als Zusammenhang der Totalität, beziehungsweise als Ganzheit.

(Y) Wir wollen auf diese beiden Aspekte jetzt kurz näher eingehen. Zuerst zum zeitlichen Aspekt der Dialektik. Mit dem zeitlichen Aspekt ist vereinfacht gesagt, dass sich alles ständig verändert, oder wie Brecht in seinem Lob der Dialektik sagt: „So wie es ist, bleibt es nicht.“ Wenn wir es ein bisschen komplizierter ausdrücken wollen, wird damit die Veränderung des Seienden angesprochen. Also, dass alles was ist, sich bewegt und entwickelt. Alles was ist, wird unvermeidlich zu etwas, das es jetzt noch nicht ist und hört dann auf das zu sein, was es jetzt noch ist. Am Beispiel des Samenkorns: das Samenkorn wird unvermeidlich zur Pflanze, wenn man es (wenn man es) in den Boden setzt und entsprechend pflegt und wird damit zu etwas, was es jetzt noch nicht ist und hört dann auf das zu sein, was es jetzt ist, nämlich das Samenkorn. Was bedeutet das für unsere Betrachtung der Welt? Das bedeutet, dass wir die Welt nicht nur so anschauen, wie sie gerade ist, sondern auch die Vergangenheit, aus der die Gegenwart gewachsen ist und die Spuren der Zukunft, die schon in der Gegenwart liegen. Machen wir es konkret. Die Vergangenheit, die in der Gegenwart liegt, lässt sich zum Beispiel am vergangenen, beziehungsweise auch immer noch weiterbestehenden Kolonialismus betrachten. Der Kolonialismus hat den kolonialisierenden Ländern ja ´nen bestimmten Reichtum und bestimmte Vorteile gebracht und den kolonialisierten Ländern bestimmte Nachteile und Zerstörung. Und das wirkt in der Gegenwart immer noch nach. Man sagt ja gerne „was interessieren mich die Nachrichten von gestern?“, aber wer dialektisch denkt, sagt „gerade die Nachrichten von gestern sind das was mich interessiert, denn nur durch die Nachrichten von gestern kann ich verstehen, was das Heute ist.“ Und bei den Spuren der Zukunft könnte man sagen, dass im Kapitalismus ´ne zunehmende Vergesellschaftung der Produktion und des Handelns stattfindet und dass das eigentlich schon ein erstes Zeichen für ´ne sozialistische Zukunft sein könnte. Zentral für diese Bewegung in der Zeit, sind die in den Dingen innewohnenden Widersprüche. In ihnen gibt es zum Beispiel einen vergangenen Teil und einen zukünftigen Teil. Es gibt etwas, was sich ablebt und etwas sich entwickelndes, die sich gegenüber stehen. Der Kampf zwischen diesen Gegensätzen treibt die Entwicklung voran. Aber gerade weil die Entwicklung durch Widersprüche vorangetrieben wird, ist sie keine harmonische Entwicklung, sondern äußert sich in Form des Hervorbrechens von Widersprüchen. Machen wir auch das nochmal konkret. In Produktionsweisen gibt es nach Marx einen Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Wenn unsere Technik und unsere Wissenschaft ein bestimmtes Maß erreicht haben, sind irgendwann die Produktionsverhältnisse – also zum Beispiel der Kapitalismus – stärker zu Ketten geworden, als die Entwicklung weiter zu befeuern. Dann sind die Produktivkräfte, die neu da sind und die viel stärker sind, das Neue und die Produktionsverhältnisse –  aka der Kapitalismus in der heutigen Zeit – sind dann das, was die wirkliche Entfaltung der Produktivkräfte zurück hält. Dieser Widerspruch äußert sich dann im Widerspruch zwischen der ausbeutenden Klasse und der ausbeuterischen (Anmerkung: gemeint ist „ausgebeuteten“)  Klasse. Denn die ausbeutende Klasse will grade die bestehenden Produktionsverhältnisse weiter beibehalten um ihre eigene Position zu sichern, während die ausgebeutet Klasse dagegen kämpft. 

(L) Mit dem strukturellen Aspekt der Dialektik ist vereinfachend gemeint, dass alles zusammen hängt und man Dinge nur in diesem großen Zusammenhang wirklich verstehen kann. Oder wie Hegel sagt: Das Wahre ist das Ganze. Das bedeutet, dass die Natur nicht als zufällige Anhäufung von Dingen angesehen wird, die voneinander losgelöst und ganz unabhängig wären, sondern stattdessen wird die Natur als ein zusammenhängendes, einheitliches Ganzes verstanden, in dem die Dinge miteinander verbunden sind, voneinander abhängen und einander bedingen. Wenn wir Dinge und Erscheinungen verstehen wollen, dann dürfen wir sie nicht aus diesem Zusammenhang nehmen und isoliert betrachten. Etwas zu begreifen bedeutet also auch den Kontext miteinzubeziehen und auf das Ganze, also den Gesamtzusammenhang zu blicken. Man kann eine einzelne Volkswirtschaft also nicht einfach unabhängig von der Weltwirtschaft, oder von dem Weltzusammenhang sehen, wir können die deutsche Wirtschaftsleistung nicht einfach nur auf die deutschen Arbeiter*innen beziehen, wir können das nicht als geschlossenes System betrachten, sondern wir müssen auch die Interaktion, die wirtschaftlichen Interaktionen von Deutschland mit anderen Ländern betrachten. Denn nur in diesem Gesamtzusammenhang können wir verstehen, woher bestimmte Ergebnisse, oder auch zum Beispiel der Reichtum von Deutschland kommt. 

(Y) Die Welt dialektisch zu verstehen bedeutet immer, die verschiedenen Aspekte auch in ihrer Vermittlung zu sehen. Genauso werden auch die beiden Aspekte der Dialektik selbst, also Struktur und Prozess vermittelt angesehen und sind wiederum in ´ner Einheit verbunden. Das heißt, die Totalität, oder der Gesamtzusammenhang wird als eine sich entwickelnde Totalität verstanden. Das Ganze, das das Wahre ist – nach Hegel – ist also ein sich entwickelndes Ganzes. Das bedeutet wiederum, dass wir die Struktur der Totalität oder des Gesamtzusammenhangs und seine Gesetze nicht ohne die Kräfte der Bewegung und Veränderung begreifen können, die in ihm wirken.

(L) Wir haben jetzt also so ungefähr ein Verständnis, was mit Dialektik gemeint ist. Was ist jetzt materialistische Dialektik? Die materialistische Dialektik ist die Wissenschaft davon, nach welchen Gesetzen Natur, Gesellschaft und unser Denken sich entwickeln und bewegen. Sie geht in ihrem Blick auf Natur und Gesellschaft davon aus, dass die Welt nicht einfach als ein Sammelsurium aus fertigen Dingen zu verstehen ist, sondern als ein fortlaufender Prozess, in dem erstens Dinge entstehen und vergehen und in dem zweitens die Entwicklung nicht nur im Kreis läuft, sondern insgesamt und über die Zeit hinweg betrachtet, voranschreitet. 

(Y) Genau, nehmen wir mal eine idealistische Dialektik an, dann könnte man sagen, dass hier die Entwicklung durch Widersprüche im Denken, oder im Geist vorangetrieben wird. Die materialistische Dialektik geht aber davon aus, dass die Entwicklung von Natur und Gesellschaft vorangetrieben wird, durch real existierende innere Widersprüche. Das Zusammenspiel dieser Gegensätze treibt den real existierenden Prozess der Materie voran. Gleichzeitig wird das sich entwickelnde Ding als eine Einheit von Widersprüchen verstanden. Auch darauf werden wir später nochmal genauer zurückkommen. 

(L) Dieses Voranschreiten, das ist genau dieser zeitliche Aspekt, den wir schon genannt haben bei der Dialektik. Die materialistische Dialektik nimmt auch diesen strukturellen Aspekt der Dialektik auf, dass alles zusammen hängt, dass Dinge und Prozesse miteinander zusammen hängen, dass sie aufeinander einwirken und dabei bestimmten Logiken folgen. 

(Y) Wir werden gleich auf verschieden Formen eingehen, wie die Materie untereinander zusammenhängt. Vorher wollen wir aber noch ´nen anderen wichtigen Punkt kurz einschieben, der der materialistischen Dialektik häufig auch von außen vorgeworfen wird. Nämlich die Idee, dass die Entwicklung von Natur und besonders auch die Entwicklung von Gesellschaft bestimmten Gesetzen folgt und damit determiniert ist. Dass etwas determiniert ist bedeutet, dass es schon vorabbestimmt und festgelegt ist. Wenn wir uns mal das Gegenteil dieser deterministischen Sicht überlegen, dann hieße das, dass es überhaupt keinen objektiv gesetzmäßigen Zusammenhang der Entwicklung gibt, sondern dass unsere Welt nur aus lauter Zufällen und unvorhersehbaren Ereignissen besteht. 

(L) Tatsächlich geht der dialektische Materialismus davon aus, dass es objektive Gesetze und Notwendigkeiten in der geschichtlichen Entwicklung von Natur und Gesellschaft gibt. Es wird aber nicht davon ausgegangen, dass es ein rein mechanisches Ursache-Wirkung-Spiel gibt, indem alles einfach und logisch aufeinander folgt. Es wird auch nicht geleugnet, dass es Zufälle gibt, aber durch diese Zufälle hindurch lässt sich an einem bestimmten Punkt in der Entwicklung zurück blicken und die Notwendigkeit feststellen. An dieser Stelle hilft wie so oft ein Marx-Zitat. Marx sagt dazu: „ Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur Antiken etc.“ (Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW13, S.636) Zitat ende. Vom heutigen Standpunkt lässt sich also zurück blicken und die Geschichte, die sich nach bestimmten Logiken und Gesetzten abgespielt hat, lässt sich erzählen. Das Problem ist nämlich weniger, dass es keine Gesetzmäßigkeiten und keine Logiken in der gesellschaftlichen Entwicklung gäbe, das Problem ist eher, dass die Faktoren in der Welt vielfältig sind und zusammenspielen. 

(L) Die materialistische Dialektik bleibt aber nicht bei der Idee stehen, dass Dinge einfach zusammenhängen, sondern mit ihr sollen auch die verschiedenen Formen aufgedeckt werden, wie diese Dinge zusammen hängen. Solche Formen des Zusammenhangs werden selbst als dialektische Paare verstanden. Begriffe die dabei auftauchen und die wir hier etwas genauer anschauen möchten sind Kausalität und Wechselwirkung, Möglichkeit und Wirklichkeit und danach Notwendigkeit und Zufälligkeit. Es gibt natürlich noch einige weitere dialektische Paare, aber die haben wir ausgesucht weil wir glauben, dass sie für das Verständnis hilfreich sind.

(Y) Kommen wir zuerst zu Kausalität und Wechselwirkung. Wir hatten ja schon ein paar Mal festgestellt jetzt, dass die materialistische Dialektik vom Zusammenhang der Dinge ausgeht. Dass die Dinge miteinander zusammenhängen, bedeutet vor allem, dass sie aufeinander einwirken. Die einfachste Form wie zwei Dinge zusammenhängen können, ist die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Eine Ursache ist ein Ding, oder ein Ereignis, durch welches ein anderes hervorgebracht oder verändert wird. Die Wirkung ist dann das, was als Ergebnis des Einflusses entsteht. Wir können uns zum Beispiel einen Sonnenbrand anschauen. Hier ist klar, dass die Ursache die Sonne ist, die auf ungeschützte Haut geprallt ist und dadurch die Wirkung, nämlich den Sonnenbrand, hervorgerufen hat. 

(L) In der Realität ist der Zusammenhang zwischen Dingen und Ereignissen aber komplizierter. Erstens gibt es eine universelle Wechselwirkung, das heißt die Wirkungen werden selbst wieder zu Ursachen von etwas anderem und so weiter. Zweitens gibt es viele andere Faktoren, die mit rein spielen. Zum Beispiel gibt es noch Bedingungen, die zwar für sich genommen die Wirkung noch nicht produzieren, die aber trotzdem vorhanden sein müssen, damit die Ursache die Wirkung hervorbringen kann. Um jetzt beim Sonnenbrand-Beispiel zu bleiben: eine Bedingung dafür ist, dass keine Sonnencreme, oder zumindest keine ausreichende Sonnencreme verwendet wurde, aber das allein produziert noch keinen Sonnenbrand. Es braucht die Sonne, die die Haut verbrennt. Und außerdem kann es auch einen von der Ursache unterschiedlichen Anlass geben. Zum Beispiel war der Anlass für den ersten Weltkrieg die Ermordung von Franz Ferdinand – das sogenannte Attentat von Sarajevo – aber diese Ermordung war nicht die Ursache, sondern die Ursache des Weltkriegs waren die Konflikte der imperialistischen Kräfte und dass dieses Attentat geschehen ist, war einfach nur der Anlass, dass der Weltkrieg ausgelöst wurde, der sowieso früher oder später einen Anlass gefunden hätte. 

(Y) Die Unterscheidung zwischen Ursache und Anlass ist besonders wichtig, denn nicht-marxistische Analysemethoden verwechseln häufig den Anlass mit der Ursache und meinen dann, dass die Ermordung von Franz Ferdinand den ersten Weltkriegt ausgelöst hätte, vergessen aber dabei hinter den Anlass zu schauen und der wahren Ursache auf den Grund zu gehen. Ein zweites dialektisches Paar im dialektischen Materialismus ist das Paar „Möglichkeit & Wirklichkeit“. Klären wir als erstes wieder die Begriffe. Wirklich ist alles, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Natur, der Gesellschaft oder dem Denken existiert. Wirklichkeit ist ein Prozess und die jetzige Wirklichkeit ist abhängig von der Wirklichkeit der Vergangenheit und nimmt wiederum Einfluss auf die Wirklichkeit der Zukunft. Das hatten wir im zeitlichen Aspekt der Dialektik schon geklärt. Als Möglichkeit kann man im Gegensatz dazu die Tendenzen und Bewegungsrichtungen der Wirklichkeit bezeichnen, deren Ergebnisse Wirklichkeit werden können. Möglich ist also alles, was zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht wirklich ist, aber wirklich werden kann. Möglichkeit und Wirklichkeit bilden – wie schon gesagt – ein dialektisches Paar und hängen eng zusammen. So bestimmt die aktuelle Wirklichkeit das, was möglich ist. Verändert sich aber die Wirklichkeit dadurch, dass Möglichkeiten wirklich werden, so entstehen dadurch auch neue Möglichkeiten. Nehmen wir dafür wieder ein Beispiel. Im 14. Jahrhundert war der Sozialismus noch keine Möglichkeit, weil die technische und gesellschaftliche Entwicklung noch nicht so weit war, dass ein Sozialismus hätte umgesetzt werden können. Indem die kapitalistische Entwicklung aber in den kommenden Jahrhunderten von einer Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden ist, wurde die Möglichkeit des Sozialismus geschaffen. Veränderte Wirklichkeit schafft also Möglichkeiten. 

(L) Eng mit Möglichkeiten hängen Notwendigkeiten und Zufälligkeiten zusammen, das dritte dialektische Paar, das wir uns jetzt anschauen. Notwendig ist all das, was nicht nur eintreten kann, sondern auch eintreten muss. Ansonsten ist es zufällig. Auch hier finden wir wieder eine Einheit der Gegensätze Notwendigkeit und Zufälligkeit. Die Zufälligkeit können wir als Erscheinungsform der Notwendigkeit betrachten, durch die hindurch sich die Notwendigkeit durchsetzt. Das sieht man zum einen daran, dass zufällige Ereignisse auch wieder bestimmte Ursachen und Wirkungen haben, für die sie dann quasi notwendig waren. Zum anderen können zum Beispiel zufällige Mutationen in den Genen zu notwendigen Eigenschaften einer Spezies werden, wenn sie diese Spezies überlebensfähiger machen und sich durchsetzen. 

(Y) Ein ähnliches Beispiel des dialektischen Bezugs von Zufälligkeit und Notwendigkeit lässt sich auch bei den Mutationen des Corona-Virus erkennen. Bei einer solchen weltweiten Ausbreitung des Virus, wie sie aktuelle gegeben ist, mit unzähligen neuproduzierten Kopien des Virus selbst, muss es Notwendig zu Mutationen kommen. Welche Mutationen es genau sind und wo sie auftreten, ist aber zufällig. 

(L) Was ist angesichts dieses Zusammenspiels von Zufälligkeit und Notwendigkeit, die Aufgabe von Wissenschaft? Die Wissenschaft muss die Notwendigkeit unter der Oberfläche aufdecken. An der Oberfläche von Natur und Gesellschaft haben wir´s scheinbar mit rein zufälligen Ereignissen zu tun. Aber eine wissenschaftliche Betrachtung deckt die Notwendigkeit, die unter der Oberfläche dieser zufällig erscheinenden Ereignisse liegt, auf. 

(Y) Wir haben also mittlerweile besprochen, was Philosophie ist, was die Grundfrage der Philosophie ist, was der marxistische Materie-Begriff ist und sind auch auf die zwei Aspekte der materialistischen Dialektik eingegangen: auf den zeitlichen und auf den strukturellen Aspekt. Im Herzen der materialistischen Dialektik gibt es drei Grundgesetze, auf die wir jetzt eingehen wollen. Diese drei Gesetze wirken gleichzeitig und zusammen in der Wirklichkeit. Das erste Gesetz ist das Gesetz von der Einheit und des Kampfes der Gegensätze. Das zweite Gesetz ist das Gesetz des Umschlagens quantitativer Veränderung in qualitative und umgekehrt. Und das dritte Gesetz ist das Gesetz der Negation der Negation. Wir wollen jetzt auf diese drei Gesetze eingehen.

(L) Das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze sagt im Kern, dass es in allen Vorgängen einander gegengesetzte Seiten und Tendenzen gibt, die sich einerseits ausschließen und in gewisser Weise auch bekämpfen, aber andererseits eine Einheit bilden, einander bedingen, durchdringen und sogar ineinander übergehen. Dabei stehen sich immer zwei Gegensätze gegenüber. Positive und negative elektrische Ladung, Anpassung und Vererbung in der Entwicklung von biologischen Arten, Produktion und Konsum von Gütern, oder die ausbeutende und die ausgebeutete Klasse. Diese beiden Seiten sind Gegensätze, weil sie nicht nur unterschiedlich sind, sondern in einem Widerspruchsverhältnis zueinander stehen. Das heißt, sie schließen sich gleichzeitig aus und verweisen aber auch aufeinander.

(Y) Das zweite Gesetz ist – wie schon gesagt – das Umschlagen quantitativer Veränderung in qualitative und umgekehrt. Die grundlegende Aussage dieses Gesetzes ist, dass die Entwicklung von sich ansammelnden, unbedeutenden und verborgenen quantitativen Veränderungen zu sichtbaren und grundlegenden qualitativen Veränderungen übergehen. Und zwar so, dass die die qualitative Veränderung nicht langsam und allmählich, sondern rasch, plötzlich und in Form eines sprunghaften Übergangs vom einen zu dem anderen Zustand ablaufen. Das heißt, dass sich etwas qualitativ in der Natur, der Gesellschaft oder unserem Denken verändert, geschieht vermittelt über quantitative Veränderungen. Gleichzeitig führen diese qualitativen Veränderungen wieder zu quantitativen Veränderungen. 

(L) Aber was ist mit qualitativen und was ist mit quantitativen Beschaffenheiten gemeint? Die qualitative Beschaffenheit von Dingen, die können wir über die Sinneswahrnehmungen erfahren. Zum Beispiel können wir wahrnehmen, in welchem Aggregatzustand sich Stoffen befinden, ob das Wasser also zu Eis gefroren, oder ob es Dampf ist und wir können wahrnehmen, welche Farbe die Dinge um uns herum haben. Das sind alles qualitative Eigenschaften von Dingen. Mit etwas mehr Gedankenarbeit können wir auch qualitative Bestimmtheiten erfassen, die wir nicht direkt sinnlich wahrnehmen können. Zum Beispiel die Produktionsverhältnisse in einer Gesellschaft. Bei der quantitativen Bestimmtheit geht es jetzt um die verschiedene Anzahl, Größe, Geschwindigkeit und so weiter, von qualitativ gleichen Dingen. Zum Beispiel die Größe des Hauses, die Temperatur von Wasser, oder die Größe der arbeitenden Klasse. Das sind alles messbare Größen, die wir zählen können, oder mit einem Meterstab hingehen können, oder Kilos messen können und so weiter. 

(Y) Der dialektische Materialismus geht also davon aus, dass quantitative und qualitative Bestimmtheiten miteinander zusammen hängen. Einen ersten Hinweis auf den Zusammenhang finden wir darin, dass beide in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Im Rahmen einer gegebenen Qualität ist die quantitative Veränderlichkeit begrenzt und wenn die Quantität darüber hinaus verändert werden soll, muss sich auch die Qualität verändern. Das lässt sich nochmal am Wasser-Beispiel deutlich machen. Nehmen wir einen Eisblock, dann können wir die Temperatur quantitativ in dem Bereich unter 0 beliebig verändern. Diesen Eisblock weiter als über 0°C zu erhitzen bedeutet aber, dass sich auch die Qualität, also der Aggregatzustand zu flüssigem Wasser verändern muss. Diese neue Qualität geht dann wiederum mit veränderten, quantitativen Grenzen einher. Das flüssige Wasser können wir jetzt zwischen 0 und 100°C erhitzen. Wird eine dieser quantitativen Grenzen unter- beziehungsweise überschritten, ändert sich wieder die Qualität und damit auch die quantitativen Grenzen. Dabei können wir auch erkennen, dass Entwicklung lange Zeit ruhig und fast unbemerkt vor sich geht, aber letztlich sprunghaft hervorbricht. Diese Erkenntnis wird im historischen Materialismus dann unter anderem wichtig für das Verhältnis von Evolution und Revolution in Gesellschaften. 

(L) Du hast es ja grad schon gesagt: dieses Gesetz lässt sich auch in der Gesellschaft beobachten. Zum Beispiel verfolgt Marx im Kapital die Entwicklung der Produktion von der Kooperation über die Manufaktur, bis hin zur großen Industrie. Dabei finden quantitative Veränderungen in der Produktion besonders bei der Zahl der Arbeitenden statt. Und Marx zeigt, wie diese quantitative Veränderung in eine qualitative Veränderung einen neuen Charakter der kapitalistischen Produktion und auch in eine neue Kraftpotenz umschlägt. 

(Y) Kommen wir noch zum letzten Gesetz, nämlich dem Gesetz der Negation der Negation. Das Gesetz der Negation der Negation macht klar, wie Entwicklung vor sich geht. Nämlich nicht ziellos und im Kreis, so als würde sich Geschichte immer nur widerholen, wie es bei Rechten en vogue ist, sondern mit einer bestimmten Richtung, vom Niederen zum Höheren, vom Einfachen zum Komplexen. Das Sinnbild für diese Art der Entwicklung, das gerne benutzt wird, ist eine Spirale, die sich nach oben windet. Aber fangen wir nochmal einfach an. Was bedeutet Negation? Etwas zu negieren bedeutet, dass es abgelehnt, oder verneint wird. Und nach dem dialektischen Materialismus entsteht das Neue aus dem Alten, durch Negation. Damit zum Beispiel eine Pflanze entsteht, muss das Samenkorn, aus dem diese Pflanze stammt, negiert werden. Diese Negation ist aber nicht einfach nur eine Ablehnung des Alten. Was genau bei der Negation passiert, hat Hegel mit dem etwas doppeldeutigen deutschen Wort „Aufhebung“ deutlich gemacht. Einerseits wird das Alte nämlich aufgehoben in dem Sinne, dass es nicht mehr existiert, andererseits wird es auch in dem Sinne aufgehoben, dass ein Teil von ihm bewahrt wird. Spätere Philosoph*innen haben dann noch darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff „Aufhebung“ auch in dem Sinne verstanden werden kann, dass etwas hochgehoben wird, was dem Sinnbild der Spiral noch mehr entsprechen würde, aber das war kein Bild, das Hegel selbst benutzt hat. 

(L) Behauptet wird jetzt also, dass Entwicklung abläuft, indem das Alte durch das Neue negiert, beziehungsweise aufgehoben wird. Noch kontroverser ist aber die Behauptung, dass dabei in der Geschichte nicht einfach nur ein zufälliges richtungsloses Hin und Her passiert, sondern dass eine Weiter- und ja Höherentwicklung vor sich geht. Inwiefern lässt sich diese Behauptung jetzt rechtfertigen? Unter anderem kann man sagen, dass die jeweils niederen Stufen eine notwendige Bedingung dafür sind, dass die höheren Stufen existieren können. Ein Samenkorn muss existiert haben, damit eine Pflanze existiert und verschiedene Lebewesen waren in der Evolution notwendig, damit der Mensch sich entwickeln kann. Außerdem lässt sich sagen, dass höhere Stufen der Entwicklung differenzierter, komplizierter und komplexer sind. Sie schließen die früheren Formen ein, sind aber weiter ausdifferenziert. Wenn die Begriffe „niedere“ oder „höhere“ Stufen der Entwicklung verwendet werden, geht es dabei nicht um eine moralische Bewertung. Es geht nicht darum, dass die neu entstandene Pflanze besser ist, als die vorher entstandene Pflanze. Oder dass der Mensch, der sich entwickelt hat, besser ist als frühere Lebensformen. Sondern es geht darum, dass die Komplexität höher ist, dass es eine Weiterentwicklung gab, dass es etwas gibt, was aus einem Früheren entstanden ist und je weiter diese Entwicklung voranschreitet, desto größer wird auch die Komplexität. Und man kann damit sagen, dass es eine höhere Stufe der Entwicklung ist. 

(Y) Bisher haben wir uns nur mit dem Begriff der Negation aufgehalten. Dass Entwicklung durch Negation abläuft, ist aber unvollständig. Denn Entwicklung ist viel mehr – wie das Gesetz schon sagt – eine Negation der Negation. Das bedeutet, dass das Neue, das das Alte negiert hat, also abgelehnt hat, selbst wieder Negiert wird. So wird die Negation zu einem endlosen Prozess, in dem die Negation immer wieder selbst negiert wird. Hier kann – wie so oft – ein Engels-Zitat helfen. Engels sagt dazu: „Nehmen wir ein Gerstenkorn. Billionen solcher Gerstenkörner werden vermahlen, verkocht und verbraut, und dann verzehrt. Aber findet solch ein Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Einfluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigene Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die auf ihm entstandene Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und das produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl.“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 126f.). Zitat ende. Hier haben wir also alle Elemente der Negation der Negation enthalten und hätten wir die Möglichkeit, über einen langen Zeitraum zu schauen, dann würden wir über diese Zeit hinweg sogar qualitative Veränderung in der Evolution dieser Pflanzen erkennen. Damit sind wir am Ende unserer Folge über den dialektischen Materialismus. Wiederholen wir das, was wir gesagt haben, nochmal kurz in Thesen. Der dialektische Materialismus geht davon aus, dass die Welt um uns Materie ist und dass diese Materie dem Denken und dem Bewusstsein voraus geht. Der dialektische Materialismus denkt die Welt als allgemein in Zusammenhang und als in ständiger Bewegung begriffen. Diese Bewegung wird durch Widersprüche vorangetrieben. Die Grundgesetze des dialektischen Materialismus sind das Getz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze. Das Gesetz des Umschlagens von quantitativen in qualitative Veränderungen und umgekehrt. Und das Gesetz der Negation der Negation. 

(L) Da der dialektische Materialismus die Philosophie des Marxismus ist, sind wir heute relativ abstrakt geblieben. Wir hoffen, ihr konntet uns trotzdem einigermaßen folgen und in unserer Folge zum historischen Materialismus schauen wir uns dann an, welche Konsequenzen das für unseren Blick auf die Gesellschaft hat und damit werden wir dann auch konkreter.

(Y) Wie immer wollen wir euch für eure Unterstützung danken, die ihr uns gegeben habt. Empfehlt und gerne weiter, teilt uns auf Social Media und gebt uns Sterne auf Apple-Podcast. Außerdem freuen wir uns über eine kleine Spende über ko-fi, um ein paar laufende Kosten zu decken. Den Link findet ihr in den Shownotes. 

(L) Als nächstes kommt dann wieder eine kürzere Gesprächsfolge zum Thema dieses Podcasts und wir freuen uns, wenn ihr auch da wieder zuhört.

(Y) Wir grüßen dieses Mal Ludwig Feuerbach und hoffen, dass du dich von Marx´ harschen Worten in der Natur erholt hast. Er meint es nicht böse.

- Musik wird abgespielt -