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Ep. #6 | Geschichte und Gesellschaft im Marxismus (Theorie)

December 28, 2021
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Ep. #6 | Geschichte und Gesellschaft im Marxismus (Theorie)
Show Notes Transcript

In dieser sechsten Folge sprechen wir im Anschluss an die letzte Theoriefolge darüber, wie der Marxismus Geschichte und Gesellschaft versteht. Dabei schlagen wir einen großen Bogen, sprechen über grundlegende Begriffe wie Produktionsweise, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Basis, Überbau und Gesellschaftsformation. Wir klären, welchen Entwicklungsbegriff der Marxismus besitzt, welche Geschichte hinter und und vor uns liegt, was es mit dem Klassenkampf auf sich hat und wie Evolution und Revolution zusammenspielen.

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Hier findet ihr unsere Transkripte zu den einzelnen Folgen.

Weiterlesen:
Althusser, L.: Widerspruch und Überdetermination. Anmerkungen für eine Untersuchung.
Engels, F.: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.
Engels, F.: Das Begräbnis von Karl Marx.
Engels, F.: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring).
Engels, F.: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen.
Engels, F.: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen. (Genutzter Teil: Vorwort zur ersten Auflage, 1884)
Engels, F.: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie.
Engels, F.: Engels an Joseph Bloch in Königsberg vom 21. Sept. 1890.
Fiedler, F./Friedrich, H./Richter, F./Ruhnow, M./Steußloff, H. (Hrsg.): Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium.
Krämer, R.: Kapitalismus verstehen.
Lenin, W. I.: Was sind die “Volksfreunde” und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? (Antwort auf die gegen die Marxisten gerichteten Artikel des “Russkoje Bogatstwo”).
Lenin, W. I.: Über unsere Revolution.
Lenin, W. I.: Der linke “Radikalismus”, die Kinderkrankheit des Kommunismus.
Losurdo, D.: Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten.
Mandel: Einführung in den Marxismus.
Lütten, J./Bernhold, C./Eckert, F.: Zur Kritik des Intersektionalismus. In: Zeitschrift Marxistische Erneuerung (126), S. 18-30.
Mao, Z.: Über den Widerspruch.
Marx, K.: Thesen über Feuerbach.
Marx, K./Engels, F.: Die deutsche Ideologie.
Marx, K.: Elend der Philosophie.
Marx, K.: Lohnarbeit und Kapital.
Marx, K.: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.
Marx, K.: Zur Kritik der Politischen Ökonomie.
Marx, K.: Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski".
Marx, K.: Das Kapital, Bd. 1.
Marx, K.: Das Kapital, Bd. 3.
Merleau-Ponty, M.: Humanismus und Terror.
Rodney, W.: How Europe Underdeveloped Africa.
Samaha, A.: How the West is Underdeveloping Itself. In: Peace, Land, & Bread (4), S. 18-46.
Schleifstein, J.: Einführung in das Studium von Marx, Engels und Lenin. (Genutzter Teil: Kapitel 3: Die materialistische Geschichtsauffassung)
Trotzki, L.: Ihre Moral und unsere (Genutzter Teil: Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Ziel und Mittel)
Trotzki, L.: Über dialektischen Materialismus. Auszüge aus Trotzkis Notizbüchern von 1933-35.

(L) Herzlich willkommen zur sechsten Folge von linketheorie, dem Podcast, wo wir über den Kapitalismus reden, was an ihm schlecht ist und wie wir ihn überwinden können.

(Y) Heute schließen wir am letzten Theorie-Input an. Aufbauend auf dem dialektischen Materialismus besprechen wir heute nämlich seine Anwendung auf die Gesellschaft, also den historischen Materialismus. Weil wir heute relativ viel zu besprechen haben, starten wir auch sofort mit einem Überblick, was der historische Materialismus denn ist. 

(L) Der historische Materialismus versteht Geschichte und Gesellschaft mit Hilfe des dialektischen Materialismus. Also dieses ganze Denksystem, das wir in der letzten Folge ´n bisschen theoretischer besprochen haben, mit dem wird jetzt auf die Gesellschaft, auf die Geschichte geschaut. Es geht darum aufzudecken, welche Gesetze der Entwicklung sich in der Gesellschaft finden, also wie einzelne Gesellschaftsformationen entstehen, funktionieren und auch wieder vergehen. Und es geht vor allem auch um die Frage, durch welche Haupttriebkräfte die Entwicklung der Geschichte vorangetrieben wird. 

(Y) Theorien darüber, was Geschichte ist und was Gesellschaft ist, gibt´s natürlich viele. Was ist jetzt das Besondere am historischen Materialismus und was zeichnet ihn genau aus? Der historische Materialismus geht davon aus, dass die materielle Produktion die Grundlage für alles Soziale, für alles Politische und für alles Geistige ist. Im Mittelpunkt steht dabei neben der materiellen Produktion auch die Frage, welche Verhältnisse wir Menschen in der Produktion wir zueinander eingehen. Außerdem geht der historische Materialismus davon aus, dass nicht einzelne kluge oder mutige Menschen die Geschichte formen – z.B. Könige oder die Bundeskanzlerin – sondern dass die Massen die Geschichte formen. Diese Massen werden verstanden als Klassen, die gemeinsame Interessen haben und die deswegen zusammengefasst sind. Zuletzt geht der historische Materialismus auch davon aus, dass die Gesellschaft sich entwickelt. Wir erinnern uns an eine der Grundideen der Dialektik, die sich zusammenfassen ließ als „so wie es ist, wird es nicht bleiben“. Das gilt auch für Gesellschaften. Aber diese Entwicklung wird nicht einfach als wild und unvorhersehbar gesehen, stattdessen wird nach allgemeinen Gesetzen gesucht, nach denen die Gesellschaft als Ganzes sich bewegt und entwickelt.

(L) In seiner Grabrede für Karl Marx fasst Engels das ganz gut zusammen. Er sagte: “Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: Die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte, einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.” (Engels: Grabrede für Karl Marx, S. 335f.)“ Zitat ende.

(Y) Im Zitat von Engels wird schon deutlich, die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft ist, dass die Menschen überleben müssen. Um zu überleben, müssen sie ihr Leben produzieren und reproduzieren. Was heißt das? Das heißt, dass sie auf der einen Seite Lebensmittel, Nahrung, Kleidung und so weiter produzieren müssen, aber auf der anderen Seite auch die Menschen selbst, etwa durch Fortpflanzung. Diese Grundtatsache wird zum Ausgangspunkt des historischen Materialismus genommen.

(L) Der Mensch ist aus zwei Seiten besonders. Einerseits hat er besondere Qualitäten, zum Beispiel einen aufrechten Gang, Hände mit frei beweglichen Daumen, frei stehende Augen und so weiter. Zum anderen hat er aber auch besondere Schwächen, denn die meisten Sinne und Organe sind weniger entwickelt, als bei anderen hochentwickelten Tierarten. Besonders deutlich werden diese Schwächen bei Neugeborenen. Sie sind sehr verwundbar und hilflos und auf andere angewiesen. 

(Y) Aus dieser besonderen Situation des Menschen heraus, entstehen dann zwei Tendenzen des menschlichen Lebens. Zum einen wird für die Menschen das soziale Zusammenleben nicht nur eine Möglichkeit, sondern wird für ihr Überleben sogar Notwendig. Andererseits bastelt das sogenannte „Mängelwesen Mensch“ sich Werkzeuge, um das eigene unsichere Überleben zu sichern.

(L) Im sozialen Miteinander und mit den Werkzeugen, die ihnen dann zur Verfügung stehen und die sie auch immer weiter entwickeln, wirken die Menschen auf die Natur um sie herum ein und verändern sie dadurch. Gleichzeitig verändert die Arbeit an der Natur aber auch den Menschen selber. Der Mensch nimmt verschiedene Positionen gegenüber der Natur und seinen Mitmenschen ein, je nachdem wie seine Umwelt ausgestaltet ist. Schnell wird aber auch deutlich, dass arbeiten nur mit anderen Menschen möglich ist. Man koordiniert sich miteinander und produziert oder reproduziert gemeinsam das eigene Leben. So bildet sich auch die Sprache heraus, mit deren Hilfe die Menschen sich austauschen können und auch ihr Handeln absprechen können.

(Y) Zusammenfassend haben wir also als Ausgangspunkt der Gesellschaft einen Menschen, der arbeiten muss, um zu überleben, der dabei auf Werkzeuge zurück greift, um damit seine eigenen Mängel auszugleichen und der notwendig mit anderen Menschen zusammen wirken muss. Also mit ihnen in bestimmte Verhältnisse tritt. Diese gesamte Situation befindet sich durch die Weiterentwicklung von Werkzeugen im Wandel und nimmt so einen sich ändernden Einfluss auf die Beziehungen der Menschen und auf ihr Denken.

(L) Wir gehen jetzt zuerst darauf ein, wie eine Gesellschaft als Ganzes zusammen hängt. Welche Rolle die materielle Produktion einnimmt und welchen Einfluss sie auf andere Teilbereiche der Gesellschaft hat. Wenn wir davon ausgehen, dass am Fuß der Gesellschaft die materielle Produktion liegt, dann müssen wir auch erst mal erklären, was diese materielle Produktion überhaupt ist. 

(Y) Zunächst mal gibt es in den menschlichen Gesellschaften sogenannte  Produktivkräfte. Als Produktivkräfte können wir Kräfte bezeichnen, die die Menschen einsetzen, um materielle Güter herzustellen, um ihre Bedürfnisse – wie zum Beispiel ihren Hunger – zu befriedigen. Die grundlegende Produktivkraft ist das Arbeitsvermögen selbst, also unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten und unsere Qualifikationen. Das zweite Element sind die Produktionsmittel. Produktionsmittel setzen sich zusammen aus einerseits den Arbeitsgegenständen, also den Rohstoffen und Zwischenprodukten unserer Arbeit, andererseits aber auch aus den sogenannten Arbeitsmitteln, also unter anderem den Werkzeugen und den Maschinen, die wir zur Produktion einsetzen. 

(L) Die Produktivkräfte sind geschichtlicher Natur, also sie verändern sich im Lauf der Zeit. Die Menschen verbessern ihre Werkzeuge, sie verfeinern die Arbeitsteilung und ihre Fertigkeiten, sie setzten verbesserte Techniken ein und sie geben auch als das neue Wissen an die kommenden Generationen weiter, die dann die Produktivkräfte weiter verbessern. Mittlerweile haben wir ein enormes Niveau der Produktivkräfte. Wir haben komplexe Maschinen und wir haben auch Produktionen und Güterverteilungen, die global über das Internet gesteuert werden können. Dass die Produktivkräfte sich entwickeln bedeutet, dass die Gesellschaften in der Zeit sich dadurch unterscheiden, wie sie die Güter herstellen, die sie zum Überleben brauchen. Marx sagt dazu: “Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird” (Marx: Das Kapital, Bd. 1, S. 195) Zitat ende.

(Y) Das bringt uns zu dem zweiten wichtigen Punkt, nämlich zu den Produktionsverhältnissen. Indem sich die Produktivkräfte entwickeln, verändert sich nämlich auch die Art und Weise, wie die Menschen einer Gesellschaft zusammenarbeiten, wie sie ihre Arbeit untereinander teilen und in welchen sozialen Formen ihre Produktion organisiert wird. Diese Verhältnisse, die die Menschen dabei eingehen, nennt man Produktionsverhältnisse. Sie umfassen alles von der Arbeitsteilung und der Zusammenarbeit, über die Planung und Leitung der Produktion, bis hin zur Verteilung, den Austausch, sowie den Verbrauch von Produkten der Arbeit. Diese Verhältnisse sind vom jeweiligen Willen der Menschen unabhängig , haben also einen materiellen Charakter. Im Mittelpunkt dieser Produktionsverhältnisse steht die Frage, wer das Eigentum an den Produktionsmitteln hat. Wem gehören also die Fabriken, die Maschinen mit denen produziert wird, die  LKWs mit denen Produkte transportiert werden und die Computer, mit denen unsere Produktion geplant und durchgeführt wird? Diese beiden Elemente, die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, bilden dann zusammen die sogenannte Produktionsweise der Gesellschaft. 

(L) Ich hatte vorhin schon gesagt, dass die Produktivkräfte sich weiter entwickeln, ausweiten und immer komplexer werden. Jetzt kann´s an bestimmten kritischen Punkten dazu kommen, dass die Produktionsverhältnisse nicht länger die Weiterentwicklung der Produktivkräfte fördern, sondern im Gegenteil zu Bremsern werden. In so einem Fall dann, muss eine Gesellschaft die Verhältnisse, die ihre Mitglieder in der Produktion zueinander einnehmen verändern, damit die Produktivkraftentwicklung weiter vorangebracht werden kann. Wir hatten in der Folge zur Kritik des Kapitalismus schon einmal davon gesprochen, dass es bei einer Sklavengesellschaft an einem bestimmten Punkt – ja – sogar Sinn machen kann, sie abzuschaffen und –also ich spreche jetzt nicht von der moralischen Ebene, sondern einfach von der materiellen, ökonomischen Ebene, aus Sicht der herrschenden Klasse – wenn sich die Gesellschaft zum Beispiel so verändert, dass die einfachen, ungelernt auszuführenden Tätigkeiten durch Maschinen ersetzt werden und stattdessen mehr fachliches Personal benötigt wird, dann kann´s – ja – rein ökonomisch Sinn machen, die Sklaverei abzuschaffen und die Arbeit anders zu organisieren. Zum Beispiel dann durch Leibeigenschaft, oder durch Lohnarbeit. Und damit dann der technologischen Entwicklung, die gerade passiert, nicht im Weg zu stehen. 

(Y) Bei diesem Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen können wir auch das Gesetz des Umschlagens quantitativer in qualitativer Veränderung, das wir letztes Mal beim dialektischen Materialismus erklärt haben, wieder erkennen. Die quantitative Entwicklung der Produktivkräfte schlägt an einem gewissen Punkt um, in eine qualitative Veränderung der Produktionsverhältnisse.

(L) Diese gleichzeitig einheitliche, aber auch irgendwie widersprüchliche Beziehung von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften findet in der Geschichte dann ihren Ausdruck im Kampf von gesellschaftlichen Klassen, die ihre realen, ökonomischen Interessen durchzusetzen versuchen. So können Klassen ein konservatives Element repräsentieren, die aktuellen Produktionsverhältnisse verteidigen und damit die Produktivkraftentwicklung einschränken. Oder sie setzen sich für eine Weiterentwicklung ein.

(Y) Diesen Einfluss der Produktivkräfte auf die Produktionsverhältnisse drückt Marx auch aus, wenn er sagt „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.” (Marx: Das Elend der Philosophie, S. 130) Zitat ende. Das lässt sich auch am Beispiel der kapitalistischen Produktionsweise erkennen. Hier entfalten sich die Produktivkräfte zunächst durch die Suche der kapitalistischen Klasse nach der Ausweitung des Profits, aber gleichzeitig nehmen Produktion und Austausch zunehmend gesellschaftlichen Charakter an. Der Widerspruch zwischen diesem durch die Ausweitung der Produktivkräfte schon gesellschaftlichen Zusammenhang einerseits und der andererseits weiterhin privaten Aneignung produziert dann Krisen und zerstört regelmäßig Produktivkräfte und Reichtum. Um die Produktivkräfte weiter entfalten zu können, wird eine Veränderung der Produktionsverhältnisse notwendig. 

(L) Der historische Materialismus geht also davon aus, dass die Produktionsverhältnisse das in letzter Instanz bestimmende sind, das auf alle anderen Verhältnisse Einfluss nimmt. Besonders für Menschen in der linken Bewegung stellt sich hier die Frage ja, was bedeutet das für andere Kämpfe? Für den feministischen, den anti-rassistischen und weitere progressive Kämpfe? Die besondere Position der Produktions- und damit auch der Klassenverhältnisse bedeutet, dass sie einen grundlegenden, strukturierenden Einfluss auf die anderen Verhältnisse nehmen. Aber das wird dabei natürlich nicht als alleiniger Faktor verstanden. Das merkt man zum Beispiel auch daran, dass das Patriarchat schon lange vor dem Kapitalismus existiert hat, aber seit der Kapitalismus entstanden ist, nimmt die kapitalistische Produktionsweise Einfluss auf eben alle anderen Verhältnisse und sie sind nicht mehr zu verstehen und auch nicht zu bekämpfen, ohne dass man einen Blick auf die kapitalistische Produktionsweise wirft. Ein Kampf gegen den Rassismus zum Beispiel, der die ökonomische Basis nicht in den Blick nimmt, bleibt einfach stehen dabei, dass er die Erscheinung verändert, indem er zum Beispiel versucht, Diskriminierung abzumildern, was ehrenhaft ist, aber nicht das Wesen und die Ursache verändert. Alle gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse müssen also vor dem Hintergrund ihrer Funktion in der bestehenden Produktionsweise verstanden und bekämpft werden. Und genau das sagt diese besondere Position aus. Nicht, dass alles andere sich darauf zurückführen lässt, oder unwichtig wäre, sondern dass es mit all diesen Verhältnissen zusammenhängt und in diesem Kontext eben einen strukturierenden Einfluss hat und eine strukturierende Rolle einnimmt. 

(Y) Wir treten jetzt von der Produktionsweise nochmal einen Schritt zurück und führen eine höhere Ebene ein, die von Basis und Überbau. Denn im historischen Materialismus wird nicht nur auf den Zusammenhang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Produktionsweise hingewiesen. Wie wir schon angedeutet haben wird auch behauptet, dass die materiellen Verhältnisse Einfluss auf die ideologischen Verhältnisse nehmen. Die Gesellschaft wird also als ein organisches Ganzes betrachtet, in dem die Bestandteile miteinander zusammenhängen und aktiv aufeinander einwirken. Für den historischen Materialismus gibt es nämlich keine isolierte Kunst, es gibt keine isolierte Politik und es gibt auch keine isolierte Wissenschaft. All diese Teilbereiche der ideologischen Verhältnisse müssen im Zusammenhang der sogenannten Gesellschaftsformation und vor dem Hintergrund der Produktionsweise betrachtet werden. 

(L) Erklären wir erst mal die Grundbegriffe. Was ist Basis, was ist Überbau? Die Basis einer Gesellschaft, das ist ihre ökonomische Struktur, also die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse in ihr, die unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Menschen sind und die sich herausbilden, ohne durch das Bewusstsein der Menschen eben durchzugehen. Der Überbau setzt sich zusammen aus den ideologischen Verhältnissen, also dazu gehört das Bewusstsein der Menschen von den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen, ihre politischen, rechtlichen, moralischen, philosophischen und religiösen Auffassungen, also alles Mögliche, was wir denken über die Gesellschaft, über uns selbst und so weiter. 

(Y) Um das Verhältnis von Basis und Überbau besser zu verstehen, greifen wir nochmal auf ein Zitat von Marx zurück. Marx sagt: „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. [Und dann ganz wichtig] Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” (Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 8f.) Ende des Zitats. 

(L) Dieses Zitat kennt man ja, es wird dann oft verkürzt zitiert mit „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ und genau das steht eben für den Materialismus. Der Überbau wird durch die Basis bestimmt. Das passiert zwar nicht immer unmittelbar oder direkt, aber doch in letzter Instanz und da wir schon festgestellt hatten, dass die Basis sich in Bewegung und Veränderung befindet, ändert sich dementsprechend auch der Überbau. Aber gerade weil diese Beziehung zwischen Basis und Überbau eben nicht unmittelbar ist, erscheinen uns – wenn wir zum Beispiel auf die Geschichte, auf die Gesellschaft schauen – die Konflikte und die Umwälzungen, die wir da sehen, teilweise als Konflikt im Überbau. Und man unterlässt es, sie dann eben auf die materielle Basis zurückzuführen. Dabei wird dann häufig das, was die an der Geschichte teilnehmenden Menschen von sich selbst und ihren Konflikten denken, als das Wahre genommen, anstatt die verschütteten Ursprünge zu suchen. Die Ursprünge, woher überhaupt dieses Denken kam. Und das ist nach dem historischen Materialismus eben in der Basis zu finden, in den ökonomischen Verhältnissen.

(Y) Und weil ich heute zuständig bin für die Marx-Zitate, werfe ich gleich noch ein passendes dazu ein. Marx hat nämlich auch gesagt: „Sowenig wie man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.” (Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 9) Zitat ende.

(L) Um zu verstehen, wie die Basis den Überbau bestimmen kann, müssen wir erst den Klassencharakter des Überbaus verstehen. 

(Y) Genau, die Klassen einer Gesellschaft besitzen eine bestimmte materielle Lebensrealität, vor deren Hintergrund bestimmte Ideen für sie als sinnvoll und passend erscheinen und andere nicht. Sie nehmen dann die Ideen auf, die zu ihrer materiellen Situation passen und ihre Lebensrealität rechtfertigen. So werden Mitglieder der kapitalistischen Klasse eher dazu neigen, eine Ideologie vom freien Markt und von der angeblich leistungsbezogenen Güterverteilung aufzunehmen, als Ideen vom Kommunismus und des gesellschaftlichen Besitzes. Jetzt haben in einer Klassengesellschaft diejenigen, welche die materielle Produktion kontrollieren und die großes Eigentum besitzen, die Möglichkeit besonderen Einfluss auf die Ideenproduktion zu nehmen. Sie können zum Beispiel Medienanstalten besitzen und diejenigen Intellektuellen finanziell fördern, die eine ihnen passende Ideologie verbreiten. So kommt es dann, dass Marx und Engels sagen können „Die Gedanken der herrschenden Klasse in jeder Epoche, sind die herrschenden Gedanken.“ Nicht durch irgendeine Verschwörung, oder ähnliches, sondern durch die materielle Situation der herrschenden Klasse. 

(L) Wenn wir – wie wir das gerade getan haben – die Bedeutung der Basis und die materiellen Ursachen von Politik, Philosophie und so weiter betonen, dann bedeutet das aber nicht, dass die Wichtigkeit von Ideen geleugnet wird. Aber sie sind eben auch nicht absolut gesetzt, viel mehr wird verstanden, dass Ideen in der Geschichte wirksam sein können, aber eben immer in Verbindung zu ihren materiellen Wurzeln verstanden werden müssen. Sie können also nicht einfach abgekoppelt als eigenständige Treiber von Gesellschaft analysiert werden, sondern es muss der Kontext der gesellschaftlich ökonomischen Verhältnisse miteinbezogen werden, aus denen diese Ideen entstanden sind. Außerdem wird gezeigt, dass die Wirksamkeit von Ideen durch die materiellen Verhältnisse auch eingeschränkt werden kann. Denn die Rolle, die die Ideen in der Geschichte spielen hängt vor allem davon ab, welche Klasseninteressen sie wiederspiegeln. 

(Y) Damit hängt auch zusammen, dass der Überbau eine aktive Rolle in der Entwicklung von Gesellschaft einnehmen kann. Dem Überbau kommt schon allein deswegen ´ne aktive Rolle zu, weil die Klassen ihre ökonomischen Interessen unter anderem auf dem politischen und dem ideologischen Feld durchkämpfen. Diese Kämpfe im Überbau  weisen dabei eine relative Selbstständigkeit auf. Zudem kann Beispielsweise der religiöse Glaube daran, dass ein bestimmter Wald heilig ist, die ökonomische Tätigkeit beeinflussen, da dieser Wald so nicht zur Kultivierung bereit steht. 

(L) Wir können das so zusammenfassen, dass die materiellen Verhältnisse die Basis einer Gesellschaft und die ideologischen Verhältnisse ihren Überbau bilden. Die Basis bestimmt den Überbau teils direkt, teils vermittelt. Gemeinsam bilden sie dann die Gesellschaftsformation. Das sind Begriffe, die für ein strukturelles Verständnis der Gesellschaft wichtig sind, also die Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse, Produktionsweise und Basis, Überbau, Gesellschaftsformation.

(Y) Wir wollen jetzt noch auf den Begriff der Entwicklung näher eingehen. In der marxistischen Philosophie ist ja die Idee einer gesetzmäßigen Entwicklung zentral. Bevor wir auf diesen zeitlichen Aspekt des historischen Materialismus eingehen, wollen wir deswegen kurz erklären, was genau für ´nen Entwicklungsbegriff der historische Materialismus genau besitzt und warum er anders ist, als der bürgerliche Entwicklungsbegriff, der zu recht von postkolonialer Seite kritisiert wurde. Ausganspunkt der Gesellschaft ist – wie wir schon gesagt haben – die Produktion und Reproduktion des Lebens der Menschen. Walter Rodney, panafrikanischer Historiker und Politiker meint, dass eine Gesellschaft sich entwickelt, wenn die Mitglieder gemeinsam ihre Fähigkeit steigern, mit ihrer Umwelt umzugehen. Das tun sie zum Beispiel durch Wissenschaft, Anwendung von Technik, oder Arbeitsorganisation. Dadurch schaffen sie es, die notwendigen und die kulturell produzierten Bedürfnisse mit weniger Zeitaufwand zu befriedigen und so entweder die Masse an Gütern und Dienstleistungen zu steigern, die zur Verfügung stehen, oder auch mehr Freizeit dazu zu gewinnen.

(L) Natürlich kann man die menschliche Entwicklung nicht nur als gradliniger Fortschritt betrachten, es gibt immer auch Zeiten des Rückschritts und außerdem produzieren Widersprüche in Klassengesellschaften wie dem Kapitalismus Kriege und anderes Negatives. Aber die übergreifende Tendenz, über Gesellschaften hinweg, ging in Richtung ausgeweiteter Produktion und zu bestimmten Zeitpunkten führte diese Ausweitung der Quantität der Güter zu einem Umschwung in der Qualität der Gesellschaft.

(Y) Die Entwicklung der Gesellschaften ist also eng mit der Entwicklung der Produktivkräfte verbunden und jede Ausweitung der Produktivkräfte hat das Potenzial, dass die Menschen weniger Schicksal und mehr Freiheit erleben. Auch Marx betont im dritten Band vom Kapital, dass das Reich der Freiheit erst da beginnt “wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört” (Marx, Kapital Bd. 3, S. 828). Gleichzeitig gibt es aber durch die Verstrickung der Gesellschaften weltweit aber auch die Möglichkeit auf Kosten anderer Gesellschaften die eigene Freiheit auszuweiten. Zum Beispiel könnte man die gesamte Produktion und Reproduktion der eigenen Gesellschaft auf die Mitglieder einer anderen Gesellschaft legen, sodass man selbst den ganzen Tag Freizeit hat, während andere Gesellschaften alle zum Überleben notwendige Arbeiten verrichten.

(L) Als wir über die Produktionsweise und die Gesellschaftsformation gesprochen haben, haben wir schon gesagt, dass die Produktivkräfte weiter entwickelt werden und an einem bestimmten Punkt eine Veränderung der Produktionsverhältnisse notwendig machen, um sich weiter entwickeln zu können. Diese Wechselbeziehungen von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sind also die letzte Ursache für das Entstehen und Vergehen verschiedener Gesellschaftsformationen. Nochmal zur Erinnerung: eine Gesellschaftsformation umfasst neben diesen materiellen Produktionsverhältnissen auch die ideologischen Verhältnisse. Wir wollen jetzt als nächstes darauf eingehen, welche Entwicklung es bei den Gesellschaftsformationen gab und welche Perspektiven der Kapitalismus auf zukünftige Gesellschaftsformationen gibt. 

(Y) Der Marxismus unterscheidet in der Geschichte für aufeinander folgende Gesellschaftsformationen. Die Urgemeinschaft – oder den Urkommunismus -, die Sklavenhaltergesellschaft, die feudale Gesellschaft, die kapitalistische Gesellschaft und die sozialistische Gesellschaft. Die kapitalistische Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass das Privateigentum der Produktionsmittel bei der kapitalistischen Klasse liegt und dass die Arbeitenden freie Lohnarbeitende sind und ihre Arbeitskraft an einzelne Menschen der kapitalistischen Klasse verkaufen. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte und steigender Macht der kapitalistischen Klasse hat sich diese Klasse der feudalen Verhältnisse damals entledigt, die für ihre ökonomischen Interessen hinderlich waren und die feudale verwandelte sich in eine kapitalistische Gesellschaft. Allerdings entwickeln die Produktivkräfte sich weiter und die kapitalistische Klasse verwandelt sich damit aus einer neuen und fortschrittlichen Klasse in eine alte Klasse mit reaktionärer Rolle. 

(L) Auf die Widersprüche und gesellschaftlichen Probleme, die dadurch produziert werden, sind wir schon in unserer Folge zur Kritik des Kapitalismus eingegangen. Die Entwicklung der Produktivkräfte und des Proletariats als breite Masse machen schließlich die Verwirklichung des Sozialismus möglich. Eine Gesellschaft, in der es gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln gibt, in der die Produktion und Verteilung rational geplant werden. Auf das Proletariat als revolutionäre Klasse wird dabei nicht gesetzt, weil die Mitglieder dieser Klasse besonders moralisch wären, sondern einfach weil das Proletariat aus seiner materiellen Lage heraus das Interesse hat, das kapitalistische System und die kapitalistische Klasse zu stürzen, weil es genau die Gruppe ist, die unter dem Kapitalismus ausgebeutet wird und genau das ist wieder der Materialismus, dass es die materiellen Verhältnisse sind, die das Proletariat zur revolutionären Klasse machen. 

(Y) Diese Idee von der Geschichte von verschiedenen Gesellschaftsformationen, die nach objektiven Gesetzen aufeinander folgen bedeutet aber nicht, dass es sowas wie ´nen universellen Geschichtsgang gäbe. Auch aus marxistischer Sicht prägen sich die einzelnen Gesellschaftsformationen in den verschiedenen Ländern auf ganz eigene Weise aus. Unterschiedliche Umstände, Naturbedingungen, soziale Verhältnisse und geschichtliche Faktoren beeinflussen alle diese Entwicklung. Außerdem wird die Position vertreten, dass nicht alle Länder unbedingt alle Stufen der Gesellschaftsformation durchmachen müssen. Spätestens mit der imperialistischen Ausweitung des kapitalistischen Systems, wirken die kapitalistischen Länder auf nicht-kapitalistische Länder und strukturieren deren Gesellschaftsformation unumkehrbar um. Ein Punkt, der aber zum Beispiel von Samir Amin eingebracht wurde, der Theoretiker eines globalen historischen Materialismus im 20. Jahrhundert war, ist dass der Kapitalismus in der Peripherie als eine andere Produktionsweise ausgebildet wurde, als der Kapitalismus in den Zentren. Einfach weil er in einem Abhängigkeitsverhältnis entstanden ist und dadurch gebildet wurde, dass von außen der Impuls kam und die führenden kapitalistischen Länder die Länder der Peripherie, oder die abhängigen Länder, ausbeuten wollten. 

(L) Eng mit der Geschichte der Gesellschaftsformationen hängt auch die Frage vom Verhältnis von Evolution und Revolution in der geschichtlichen Entwicklung zusammen. Und deswegen wollen wir jetzt auch noch genau darauf eingehen. 

(Y) Ja, ich glaube zuerst muss festgehalten werden, dass gewaltsame, plötzliche Bewegungen, etwa durch Revolution und/oder Krieg in der Geschichte eigentlich allgegenwärtig sind. Die etablierten westlichen Staaten sind selbst alle Produkte dieser Bewegung. Zum Beispiel der deutsche Staat durch die Kriege 1870-1871, 1914-1918, 1939-1945 und durch die Revolutionen 1848 und 1918. Revolutionen also per se zu verurteilen, oder zu sagen „Revolutionen sind immer sinnlos“ bedeutet also nichts anderes, als dass man sich selbst aus der Geschichte nimmt und behauptet, die eigene Gesellschaft hätte irgendeine privilegierte Position innerhalb der Geschichte, weil sie ewig und ohne Notwendigkeit revolutionärer Umschwünge wäre. Dazu muss man sagen, dass bei Menschen, die in einer bestimmten Gesellschaftsformation leben, es immer die Tendenz gibt, diese für natürlich oder für das Ende der Entwicklung zu halten. Also zu vergessen, dass man sich noch innerhalb der Geschichte befindet. Die kapitalistische Produktionsweise hat aber eine besondere Tendenz dazu, das eigene Zusammenleben als die natürlichste Form und als dem Wesen des Menschen gerecht zu präsentieren.

(L) Es gibt aber natürlich nicht nur Revolutionen in der Geschichte, sondern auch evolutionäre, also langsame Entwicklungen. Damit eine Revolution eine Gesellschaft wirklich nachhaltig verändern kann, ist es notwendig, dass ihr eine Evolution vorangegangen ist, die schon die Grundlagen gelegt hat für eine neue Gesellschaft, wie der Kapitalismus für den Sozialismus.

(Y) Das hilft uns dann auch zu verstehen, dass Praxis und der Wille zur Gesellschaftsveränderung nicht alles ist. Die gesellschaftliche Umwälzung ist eben nicht nur eine praktische Tat und kann jederzeit durchgeführt werden, wenn man einfach nur stark genug will und stark genug es versucht, sondern sie muss auch vorbereitet werden, durch die Evolution der gesellschaftlichen Verhältnisse, hin zu einem Punkt, wo eine Revolution tatsächlich etwas nachhaltig verändern kann. 

(L) Andererseits könnte man einwenden, dass sozialistische Revolutionen bisher in den Ländern passiert sind, wo die Produktivkräfte und die gesellschaftlichen Verhältnisse noch nicht vollständig entwickelt waren. Dann muss die Evolution nachgeholt werden, damit die Gesellschaft als sozialistische Gesellschaft bestehen kann.

(Y) Unter anderem daran kann man schon erkennen, dass eine gesellschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Veränderung komplexe Prozesse sind, die man nicht mit einem einfachen Schema verstehen kann, sondern nur indem man den historischen Materialismus als eine Methode anwendet und sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit nähert. Wir kommen jetzt noch zu einem der wahrscheinlich berühmtesten Teile des historischen Materialismus, nämlich zum Klassenkampf. Marx und Engels legen im Manifest der kommunistischen Partei ja einen Grundsatz des historischen Materialismus fest, wenn sie sagen, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Wir wollen also auch noch kurz auf den Klassenkampf eingehen, werden aber vieles nur in Skizzen lassen, weil wir in einer extra Folge nochmal genauer darauf eingehen werden.

(L) Zuerst kurz zur Frage, ob Klassen und der Klassenkampf überhaupt noch existieren. Klassen ergeben sich aus dem Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln. Wer – wie man sagt – das Kapital für sich arbeiten lassen kann, ist Mitglied der kapitalistischen Klasse, wer dagegen von einem Lohn abhängig ist, gehört zur arbeitenden Klasse. Klassenzugehörigkeit ist also keine Frage von Lifestyle, Arbeitsbedingungen, oder Lohnhöhe, sondern eine Frage des Verhältnisses zu den Produktionsmitteln. Natürlich entwickeln und verändern sich Klassen und Klassenverhältnisse innerhalb des Kapitalismus. Aber ohne einen Klassenbegriff und ohne die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse selbst, kann diese Veränderung nicht begriffen werden. Die Veränderung der Klassenstruktur sollte also als Prozess der kapitalistischen Klassespaltung und nicht als ihre Überwindung gesehen werden.

(Y) Auch die Idee, dass der Klassenkampf verschwunden wäre wird hinfällig, wenn wir erkennen, dass viele Kämpfe, die heute gekämpft werden, selbst schon auf Klassenkämpfe verweisen und selbst  Formen des Klassenkampfes sind. Aber darauf werden wir dann in der Folge nochmal genauer eingehen. 

(L) Wir haben bereits gesagt, dass die verschiedenen Klassen aufgrund ihrer materiellen Position innerhalb der Klassengesellschaft, unterschiedliche Interessen haben und auch unterschiedliche Ziele verfolgen. Die Interessen und Ziele versuche sie je nach Grad der Organisierung und anderen Faktoren, mehr oder weniger umzusetzen. Da sich die Interessen der verschiedenen Klassen unterscheiden, werden sie auch in verschiedene Richtungen arbeiten. Die Entwicklung der Geschichte ergibt sich aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Klasseninteressen. Und das ist damit gemeint, wenn Marx und Engels die Geschichte aller Gesellschaften als Geschichte von Klassenkämpfen bezeichnen. Wir wollen jetzt aber noch kurz auf einige Probleme eingehen.

(Y) Ja, wir haben ja oben schon gesagt, dass der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen als das treibende Element der Geschichte angesehen wird und dass er im Klassenkampf seine Form annimmt. Der französische, strukturalistisch orientierte Marxist Louis Althusser ging unter Rückgriff auf Lenins Erfahrung während der russischen Revolution aber davon aus, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen allein so nicht ausreicht. Dieser Widerspruch kann zwar die Revolution – wie er sagt – auf die Tagesordnung setzen, aber das allein reicht noch nicht aus. Vielmehr meint er, dass es verschiedene gesellschaftliche Elemente und Widersprüche braucht, die dann zur – wie er sagt – Einheit des Bruchs verschmelzen. Eine ähnliche Verbindung verschiedener Widersprüche sah zum Beispiel auch der Revolutionär Mao in der chinesischen Gesellschaft. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist also im Kapitalismus niemals einfach, sondern immer schon durch die historischen Umstände modifiziert, in denen er aufgehoben ist und in denen er sich entwickelt. Unter anderem durch den Überbau, den wir schon kennen gelernt haben, durch die innere Situation im Land und die nationale Vergangenheit, aber auch die Situation im globalen Zusammenhang. Eine Revolution wird also nicht dann schon zur Wirklichkeit, wenn der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sich zuspitzt, sondern erst, wenn eine Reihe historischer Widersprüche sich anhäufen und zuspitzen. Wir wollen noch auf andere Probleme eingehen, die der italienische marxistische Philosoph Domenico Losurdo eingebracht hat. Erstens meint Losurdo, dass es im imperialistischen Kapitalismus keinen Sinn mehr macht, Klassenverhältnisse auf eine binäre Logik von Kapital und Arbeit zu reduzieren. Er sagt, dass in den Menschen selbst, sich verschiedene und einander entgegenstehende Interessen und Ideen überlagern. Zum Beispiel kann ein Arbeiter im imperialistischen Zentrum in seiner Beziehung zu seinem Boss ausgebeutet werden, aber gleichzeitig gegenüber den Arbeitenden der abhängigen Länder eine ausbeutende Position einnehmen und teils sogar mit der kapitalistischen Klasse zusammen arbeiten, um das imperialistische System aufrecht zu erhalten. Ein zweites Problem, das Losurdo sieht ist, wenn wir nur auf die beherrschten Klassen fokussieren, die dann in ihrer Armut und in ihrer Unterdrückung als irgendwie privilegierte Subjekte angesehen werden. Zum Beispiel kann es ja auch vorkommen, dass die herrschenden Klassen selbst, teils am emanzipativen Prozess mitwirken, wenn es ihren Interessen entspricht. Und auch die beherrschten Klassen können teils reaktionäre Positionen übernehmen. In Marx‘ Analysen der gesellschaftlichen Wirklichkeit stecken ja ziemlich viele Beispiele dazu. Außerdem produziert dieser Fokus auf die beherrschten Klassen als beherrschte Klassen die Tendenz, dass wir die ausgebeutete Klasse plötzlich dann verurteilen, sobald sie im Sozialismus die Position der Macht einnimmt. Denn dann ist sie plötzlich nicht mehr die bettelnde, arme, ausgebeutete Klasse, sondern hat jetzt reale Macht und wenn wir mit den beherrschten Klassen nur Sympathien verspüren, weil sie beherrschte Klassen sind, dann verschwindet diese Sympathie relativ schnell, sobald sie selbst zur herrschenden Klasse wird und diese Macht dann als Gefahr wahrgenommen wird.

(L) Wir wollen jetzt aber weiter gehen und zum Abschluss noch ein paar Überlegungen einbringen, was der historische Materialismus als Wissenschaft von der Zukunft taugen kann. Es geht im Marxismus schließlich nicht nur darum, die Vergangenheit zu analysieren, sondern man möchte ja auch Aussagen über die Zukunft treffen. Besonders über die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Sozialismus. Zuerst mal Folgendes: bedeutet die Aussage, dass die Geschichte objektiven Gesetzen folgt, dass es keine Freiheit der Menschen gibt? Das kann man verneinen. Natürlich sind die Menschen die handelnden Personen und machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie – wie Marx sagt – nicht aus komplett freien Stücken, weil sie nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen gemacht werden. Gesellschaften sind eben komplexe Gebilde, mit eigenen Logiken, die von einzelnen Individuen nicht herumgerissen werden können.

(Y) Aber genau weil dem Handeln der Menschen so eine Bedeutung zugesprochen wird und weil es eine gewisse Kontingenz in der Zukunft gibt, ist diese Zukunft nicht determiniert, sondern besteht aus verschiedenen Möglichkeiten. Der Marxismus entwirft dann auch keine Utopie der Zukunft, so wie die Zukunft sein sollte, sondern er glaub an den Sozialismus und die Rolle des Proletariats, weil er die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Gesellschaft und die Geschichte der Gesellschaft analysiert hat und weil er darin bestimmte objektive Gesetzmäßigkeiten entdeckt hat. Neben diesen Möglichkeiten gibt´s aber gleichzeitig auch Unmöglichkeiten. Zum Beispiel wird´s immer ´ne Unmöglichkeit bleiben, dass der Kapitalismus sich endgültig stabilisiert, denn die Widersprüche des Kapitalismus werden auch weiter bestehen bleiben, selbst wenn der Sozialismus niemals erfüllt wird. Der Sozialismus ist damit eine historische Notwendigkeit, der nächste Schritt für einen neuen Aufschwung der Produktivkräfte entsprechend dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technologie. Aber wie der belgische Trotzkist Mandel sagt „[D]as historisch Notwendige ist nicht notwendigerweise das historisch Erreichte.” (Mandel: Einführung in den Marxismus, S. 207) Wenn das historisch Notwendige nicht erreicht wird, also der Sozialismus, bleibt immer noch die Barbarei. Die Zerstörung der Natur und der Zivilisation durch den sich überlebenden Kapitalismus. 

(L) Aus genau diesen Gründen kann der historische Materialismus als Wissenschaft der Revolution, die Praxis der Revolution zwar anleiten, aber eben auch nicht ersetzen. Denn die Kontingenz, das menschliche Handeln, die Vielzahl und das Zusammenspiel von Widersprüchen, müssen in der Praxis bewältigt werden. Die Wissenschaft der Revolution kann dabei nur unterstützen.

(Y) Damit sind wir schon wieder am Schluss von unserer Folge. Wir wollen die Gelegenheit nutzen und nochmal kurz zusammenfassen, was wir heute erzählt haben. Der historische Materialismus als Anwendung des dialektischen Materialismus auf die Gesellschaft geht davon aus, dass die Art und Weise wie Menschen produzieren und sich reproduzieren, Einfluss nimmt auf alle anderen Teile der Gesellschaft. Die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bilden dabei die Basis, auf der sich ein Überbau mit den ideologischen Verhältnissen erhebt. Beides zusammen bildet die Gesellschaftsformation. Gesellschaftsformationen wie unsere aktuelle sind nicht ewig. Da die Produktivkräfte sich weiter entwickeln, verändert sich auch die Gesellschaftsformation. Der Klassenkampf ist dabei ein wesentliches Element in dieser Entwicklung. Wahrscheinlich reicht der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen aber nicht aus, um eine Revolution zu produzieren. Eine Revolution wird dann möglich und Realität, wenn verschiedene Widersprüche verschmelzen und ineinander fallen. Wen es nicht geschafft wird, durch eine Revolution den Sozialismus zu verwirklichen, bleibt der einzige Weg der Weiterentwicklung des Kapitalismus, die Barbarei. 

(L) Ja und dann bleibt mir nichts anderes als zu sagen, danke an alle, die uns bis hierhin zugehört haben. Schreibt uns doch gerne mal per Instagram, oder an die Mail in den Shownotes, wie ihr diese oder auch andere Folgen gefunden habt. So können wir uns weiter verbessern und vielleicht gefällt´s euch dann auch noch besser, wenn euren Bedürfnissen entgegen gekommen wird.

(Y) Wenn ihr in diesen kalten Tagen gerade bei eurer Familie seid, empfehlt uns gerne weiter. Lasst uns außerdem gerne Sterne da, man kann Podcasts jetzt nämlich nicht mehr nur bei Apple Podcast bewerten, sondern auch bei Spotify. Wir freuen uns wie immer über kleine Einzelspenden über Ko-fi, den Link findet ihr in den Shownotes.

(L) Ihr könnt uns aber auch weiter empfehlen, wenn ihr nicht bei eurer Familie seid. Und ansonsten freuen wir uns auf die nächste Folge. Dieses Mal dann eine Gesprächsfolge zu dialektischem und historischem Materialismus, beides in einem und wünschen euch bis dahin alles Gute.

(Y) Wir grüßen heute Walter Rodney und wünschen dir viel Erfolg bei der Veröffentlichung deines neuen Buches zur Geschichte der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents durch Europa.

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