linketheorie - Der Podcast

Ep. #7 | Geschichte und Gesellschaft im Marxismus (Gespräch)

January 11, 2022 linke theorie
linketheorie - Der Podcast
Ep. #7 | Geschichte und Gesellschaft im Marxismus (Gespräch)
Show Notes Transcript

In dieser Folge sprechen wir über den dialektischen und historischen Materialismus. Wir diskutieren, wie wichtig die marxistische Philosophie ist und versuchen, sie an ein paar Beispielen anzuwenden. Besprochen wird auch die Frage, wie scheinbare Rückschritte in Gesellschaft oder Naturgeschichte einzuordnen sind und ob es trotzdem Fortschritt geben kann. Am Schluss überlegen wir noch, wie  der Kapitalismus  in unserer heutigen Gesellschaft der Weiterentwicklung im Weg steht.

Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn euch etwas fehlt, ihr Kritik, Anregungen oder auch Lob loswerden wollt, schreibt uns gerne unter linketheorie@proton.me.

Wir gehören keiner politischen Organisation an und erhalten auch keine Förderung, sondern arbeiten komplett unabhängig und ehrenamtlich neben Arbeit, Studium und unserem politischen Engagement. Deshalb freuen wir uns über jede kleine Unterstützung bei patreon.com/linketheorie oder unter ko-fi.com/linketheorie.  Danke!

Hier findet ihr unsere Transkripte zu den einzelnen Folgen.

(L) Willkommen zur siebten Folge von linketheorie, dem Podcast, wo wir über den Kapitalismus reden, was an ihm schlecht ist und wie wir ihn überwinden können.

(Y) Nach der Folge zum dialektischen Materialismus hatten wir euch ja ´n bisschen hängen lassen und keine Gesprächsfolge gemacht. Das liegt daran, dass das Feld, wo seine Anwendung spannend für uns und unseren Podcast wird, eigentlich erst die Gesellschaft ist. Und genau da sind wir dann schon beim historischen Materialismus, über den wir letztes Mal schon gesprochen haben. Wir machen deshalb jetzt eine Gesprächsfolge zu dialektischem und historischem Materialismus, die ja sowieso zusammenhängen und aufeinander aufbauen. 

(L) Ja, ich starte gleich mal mit einer Frage, weil wir beide hatten noch vor der Aufnahme der letzten beiden Folgen darüber geredet, ob es überhaupt sinnvoll ist, dieses enorm komplexe und jetzt auch nicht grade einfache Thema des dialektischen und historischen Materialismus jetzt noch so relativ am Anfang unseres Podcasts aufzuarbeiten. Ich meinte dann, dass wir mit einfacheren, eingängigeren Themen starten sollten, aber du hattest mich überzeugt und ich fand deine Begründung wirklich gut und würd dich deswegen jetzt  nochmal bitten, auch hier für unsere Zuhörer*innen nochmal darauf einzugehen, warum es wichtig ist für uns Marxist*innen sich mit dem dialektischen und dem historischen Materialismus auseinander zu setzen. 

(Y) Ja, ich glaub, ich bin bei uns beiden so ´n bisschen der Vertreter für marxistische Philosophie, oder zumindest derjenige, der sie für ´n bisschen interessanter hält und deswegen auch dafür war, dass wir´s relativ am Anfang jetzt im Podcast aufnehmen. Ich weiß nicht genau, ob ich alle Punkte noch zusammen bekomme, die ich damals gesagt hab, aber ich versuch´s einfach mal. Ich glaub als erstes muss man nochmal wiederholen, dass der dialektische und der historische Materialismus eigentlich ´ne Analysemethode sind, um zusammenhanglose Fakten des Alltags mit einer – ja – wissenschaftlichen Methode zu analysieren. Weil wenn wir täglich in die Zeitung schauen, oder in die Tagesschau-App, werden uns unterschiedlichste Sachen vorgesetzt und auch in der Schule kriegen wir relativ zusammenhangslose Fakten, die praktisch nebeneinander, oder wild hintereinander geschehen sind, aber die nicht in eine wirkliche Geschichte eingeordnet werden. Der historische Materialismus ist dann genau dafür da – und darüber haben wir ja letztes Mal relativ lange gesprochen – dass der historische Materialismus ´ne bestimmte Idee von Geschichte und Gesellschaft hat, von der er ausgeht und zwar nicht blind, sondern auf der Basis von der Betrachtung der hinter uns liegenden Geschichte. Und mit dieser Methode wir dann versucht die verschiedenen Fakten und die verschiedenen Tatsachen und Geschehnisse, die uns im Alltag so entgegen laufen, irgendwie in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und zwar nicht nur, um jeden Zwang in sinnvollen Zusammenhang, sondern in sinnvollen Zusammenhang, der eben auf ´ner wissenschaftlichen Methode basiert. Und dabei ist sich der historische Materialismus eben der eigenen Annahmen bewusst und dadurch dass er sich dessen bewusst ist und dadurch, dass er sie auch offen legt, sind sie kritisierbar und kann man sie überprüfen und kann man sie auch – je nachdem – verbessern. Das Verständnis für so ´ne Analysemethode wie den historischen Materialismus bringt uns dann auch das Kapital zum Beispiel von Marx näher. Diejenigen, die das Kapital gelesen haben, haben vielleicht ´n bisschen von der Dialektik mitbekommen, mit der er spielt. Zwischen Gebrauchswert und Tauschwert – beziehungsweise Wert – zwischen der abstrakten und der konkreten Arbeit und so weiter. Wenn wir durch den historischen Materialismus verstehen, dass Dialektik ein realer Vorgang in der Welt ist, also Entwicklung durch Widersprüche und die Einheit von Widersprüchen und gleichzeitig ´ne Methode, mit der wir die Welt besser verstehen können, dann können wir auch besser verstehen, wie das Kapital eigentlich aufgebaut ist und können diese gesamte Argumentation und die Methode, die hinter dieser Argumentation steht, besser verstehen. Ein zweiter Punkt, den ich noch reinbringen würde ist, dass der Marxismus ja einerseits so ´ne Kritik der politischen Ökonomie reinbringt, wie in den drei Kapitalbänden, oder in verschiedenen Manuskripten, oder der Kritik der politischen Ökonomie. Andererseits ist im Marxismus aber der historische Materialismus auch ´n wesentlicher Pfeiler und der historische Materialismus ist einfach umfassender. Die Kritik der politischen Ökonomie bezieht sich auf den Kapitalismus und der historische Materialismus gibt uns ´ne Möglichkeit, die Geschichte als Ganzes zu denken. Und was ich eigentlich noch wichtiger finde: der historische Materialismus zeigt uns erst ´nen Weg für ´ne gesellschaftliche Veränderung auf, die ökonomische Analyse im Kapital eigentlich eher weniger. Klar, da gibt´s einzelne Andeutungen, wie der Kapitalismus durch die eigene Evolution zum Sozialismus treibt, indem die Produktion zum Beispiel immer weiter vergesellschaftet wird, oder indem Aktiengesellschaften sich zusammenschweißen. Die Kritik der politischen Ökonomie ist aber in erster Linie das, was sie im Namen schon ist, nämlich ´ne Kritik. Und ich glaub der historische Materialismus hebt uns dann so ´n bisschen aus dem Nihilismus, in den wir reinverfallen könnten, wenn wir nur das Kapital lesen, nämlich in so ein nihilistisches Bild des reinen Antikapitalismus. Also der Kapitalismus ist schlecht, wegen dieser, jener und dieser Gründe, die im Kapital aufgezeigt werden – und das stimmt – aber nur der historische Materialismus zeigt uns dann, ´ne konkrete Perspektive auf, wie man hin zum Sozialismus und zum Kommunismus kommt. Ich würde also sagen das Kapital macht dich zur Antikapitalistin und die deutsche Ideologie, oder die Kritik der politischen Ökonomie, die Einleitung macht dich dann zur Kommunistin, die versteht, in welche Richtung unsere Gesellschaft nach dem Kapitalismus hintreiben wird. Ich würd auch noch ´nen dritten Punkt gern ganz kurz einbringen. Ich glaube, ein zentraler Punkt im marxistischen Denken ist ja genau zu sehen, dass das menschliche Handeln und das Handeln von Klassen in Gesellschaften wegweisend sind und maßgeblich sind. Und das war eben ´n wesentlicher Punkt von Marx, dass er hingewiesen hat, dass hinter der bürgerlichen Fassade von so ´ner mathematischen, oder herrschaftsfreien Ökonomie eigentlich gesellschaftliche Beziehungen bestehen, was ja auch im Fetischismus-Begriff zum Beispiel deutlich wird. Auch in den Büchern das Kapital, ist das menschliche Handeln meiner Meinung nach oft versteckt und man fällt dann leicht in so ´ne mechanistische Vorstellung von Gesellschaft rein. Nehmen wir zum Beispiel die These von Marx, dass die Arbeiter*innen immer weiter dequalifiziert werden. Weil das Kapital diese Tendenz in sich hat, die Arbeitenden mit möglichst wenigen Qualifikationen dazulassen, um sie leichter austauschbar zu machen und um den kapitalistischen Produktionsprozess mehr zu schützen, vor Angriffen auch von Arbeitenden. Diese Dequalifizierungs-These ist natürlich die Logik des Kapitals, aber das Kapital regiert eben die Gesellschaft nicht alleine und das lernen wir durch den historischen Materialismus, dass es noch andere Klassen gibt, es gibt noch andere Dynamiken. Es gibt den Überbau , der ´nen Einfluss hat und so weiter und das alles nimmt Einfluss auf die Logik des Kapitals. Ich hoffe, das waren meine Punkte von damals, außer du hast noch was zu ergänzen. 

(L) Ja, für mich war einfach der schlagende Punkt den du gebracht hattest, dass ja die marxistische Philosophie, dialektischer und historischer Materialismus, die Grundlage unseres Denkens und unserer Wissenschaft sind und allem anderen, was der Marxismus hervorgebracht hat und eben auch der politischen Ökonomie und wenn man einfach strukturiert heran gehen will, dann macht es Sinn, sich damit zuerst zu beschäftigen. 

(Y) Ja genau, weil wenn das Fundament von deinem Denken schon bröckelig ist und du nicht die gesamten Annahmen, die irgendwie dahinter stecken und die du gar nicht richtig alleine durchdenken kannst, wenn du die nicht auf dem Schirm hast, dann wird dir spätestens in ´ner Diskussion mit Antikommunist*innen,  Antimarxist*innen, oder was auch immer auffallen, dass deine Argumentation, oder du in der Diskussion irgendwann an ´ne Grenze stößt, wo andere vielleicht die Lücken, oder das Wackelige in deinem eigenen Denken auffinden. Und wenn du so ´n stabiles Fundament hast und darauf die ökonomische Analyse aufbauen kannst, dann kannst du auch besser argumentieren und bist weniger anfällig dafür, das sehe ich schon auch so. Da hätte ich auch direkt ´ne Gegenfrage. Und zwar hatten wir ja gerade eben schon angesprochen, dass wir ´ne längere Diskussion darüber auch hatten und ich weiß, dass du dich eher für die politische Ökonomie interessierst, als für die marxistische Philosophie und mich würde interessieren, was aus deiner Sicht dafür spricht, sich eher erst mal auf die Kritik der politischen Ökonomie zu konzentrieren und was deiner Meinung nach gegen die marxistische Philosophie spricht, also „gegen“.

(L) Also, ein Einwand von mir, gegen den Beginn direkt mit einem tieferen Einstieg in die marxistische Philosophie ist, dass die marxistische Philosophie – das hatten wir ja gerade gesagt – ist die Grundlage der gesamten marxistischen Wissenschaft und auch der politischen Ökonomie, sie ist die Methode, wie Marx und Engels zu ihren Schlüssen gekommen sind, aber es ist eben auch ´n wirklich großes, kompliziertes, komplexes Feld und wenn wir jetzt nicht unbedingt strukturiert ran gehen und erstmal einfach nur verstehen wollen, wieso die großen Probleme unserer Zeit, wie Ausbeutung, nationale und auch globale Ungleichheit, Klimakatastrophe und so weiter, – ja – wieso die schon in der Logik des Kapitalismus angelegt sind, hilft uns meiner Meinung nach vor allem die politische Ökonomie. Wer sich den Marxismus erschließen will und vielleicht selbst sogar marxistische Wissenschaft betreiben will, für den oder die ist die marxistische Philosophie natürlich ´n Muss. Aber wer einsteigen will und erst mal verstehen will, wie das alles funktioniert im Kapitalismus, dem würde ich selber erst mal ökonomische Analysen und Kritik empfehlen. Mich selber zum Beispiel haben immer konkrete Themen mehr interessiert, das ist ja auch der Grund, weshalb ich erst dann später in marxistische Philosophie eingestiegen bin und immer noch einsteige. Und da bin ich vielleicht auch in meiner Meinung dann einfach von – ja – von dem geprägt, was mich persönlich politisiert hat und ich glaube, das ist einfach je nach Person unterschiedlich. Also es gibt Menschen, die sich vielleicht mehr für Philosophie interessieren – wo das dann auch sinnvoll ist, dann darüber einzusteigen – aber auf der anderen Seite Menschen, die sich für konkrete Themen interessieren und jetzt nicht direkt von Anfang an strukturiert rangehen und den Marxismus als gesamte Wissenschaft kennen lernen wollen und für die dann eben konkrete Themen für den Einstieg besser geeignet sind. Und ich glaube, die Meisten steigen ja auch nicht strukturiert in die marxistische Wissenschaft ein, sondern lesen hier und da mal ´n Buch und nähern sich so langsam dem an, bis sie vielleicht überzeugt sind, sich da wirklich tiefer rein zu arbeiten. Und man hat ja auch nicht immer die Zeit, sich strukturiert einzuarbeiten und da find ich´s einfach besser, dass man vielleicht erst mal auch unstrukturiert sich an das rantraut, was einen am meisten interessiert. 

(Y) Ja, das sehe ich auch absolut, ich glaub viele sind ja auch irgendwie vielleicht durch das Manifest näher ran gekommen.

(L) Genau, ja.

(Y) Und dann fängt man einfach an, sich irgendwie wild einzuarbeiten, vor allem weil man ja das Gesamtfeld meistens noch gar nicht überblickt. Also, welche verschiedenen Grundpfeiler gibt´s überhaupt vom Marxismus? Das weiß man ja am Anfang noch gar nicht und später ist dann einfach wichtig sich selber zu reflektieren und zu überlegen, wo sind die eigenen Leerstellen und wo muss ich mein eigenes Denken und meine eigene Analyse von der Wirklichkeit nochmal ausbauen?

(L) Genau und dann fängt man eben an nachzubessern und zu schauen – ja – vielleicht hab ich mich zu sehr auf marxistische Philosophie, oder auf die ökonomische Seite jetzt spezialisiert und sollte mal ´n bisschen mehr von dem Anderen lesen, aber wie gesagt, ich glaub die Meisten haben nicht die Zeit, direkt mit ´nem ganzen marxistischen Studium einzusteigen, sondern man arbeitet sich so vor und ja. Aber ich glaube für unseren Podcast macht es auf jeden Fall Sinn – hat es auf jeden Fall Sinn gemacht –, dass wir hier erst mal die Basis liefern und dann eben jetzt auf andere Themen eingehen, demnächst. Ich würde mit dir gerne nochmal über ein anderes Thema sprechen. Der dialektische und historische Materialismus gehen ja davon aus, dass die Entwicklung allgemein, aber auch die Entwicklung der Gesellschaft immer fortschreiten, also dass es so einen Fortschritt geben würde und dieser Fortschrittsgedanke wurde von einigen verworfen, ja oft auch sehr oberflächlich verworfen, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust genau diesen Fortschritt verneinen. Also, dass das ja eigentlich zeigt, dass es in der Gesellschaft keinen tatsächlichen Fortschritt gibt. Und ich glaube, es wäre hier einfach wichtig nochmal darauf einzugehen, damit wir und auch die marxistische Weltanschauung hier nicht falsch verstanden werden. 

(Y) Puh, das ist glaub ich ´n großes Thema, das wir – oder das ich – wahrscheinlich nicht umfassend beantworten werden können, aber wenn wir mal nochmal zurückschauen in unsere Episoden, da haben wir schon ´n bisschen was dazu gesagt. Ich glaub, was wir zuallererst festhalten müssen ist, dass mit dem Entwicklungsbegriff in der marxistischen Philosophie und im historischen Materialismus nicht zwangsläufig ´n moralischer Fortschritt gemeint ist. Das heißt nicht, dass es nicht auch mit ´nem moralischen Fortschritt einhergehen kann, weil zum Beispiel das gesellschaftliche Sein ja das Bewusstsein beeinflusst und je nachdem ob und welche Moral wir akzeptieren, könnten wir dann sagen, dass der Sozialismus eher mitmenschlichere Umgangsformen hervorbringen kann. Aber um da tiefer einsteigen zu können, müssten wir uns erst mal mit dem Begriff der Moral auseinander setzen und ich glaube dafür ist hier keine Zeit. Vielleicht an ´nem anderen Punkt mal. Aber wenn wir uns an die Folge über den dialektischen Materialismus mal zurück erinnern, dann war da ja genau dieser Punkt, dass Fortschritt bedeutet, dass etwas ´ne höhere Komplexität hat und dass das Alte im Neuen aufgehoben ist. Das heißt, die Vergangenheit steckt immer in unserer Gegenwart. Natürlich nicht alles, aber unsere Gegenwart ist immer von dem Alten beeinflusst und hat eben ´ne höhere Komplexität. Und das würde sich ja mit solchen geschichtlichen Geschehnissen wie dem Holocaust oder dem Kolonialismus durchaus vertragen, weil hier nicht davon gesprochen wird, dass es besser wird, sondern dass die Welt einfach immer komplexer wird und die Wirklichkeit immer komplexer. Und andererseits: wir hatten ja letztes Mal auf Walter Rodney, den panafrikanischen Theoretiker und Politiker Bezug genommen, der den Punkt gemacht hat, dass wir Entwicklung verstehen sollten, als die Ausgeweitete Fähigkeit, mit der Umwelt zurecht zu kommen. Wenn wir das versuchen zusammenzubringen, glaube ich können wir Fortschritt in der Produktionsweise verstehen, als einerseits auf der Ebene von Produktivkräften haben wir ´ne Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik, die nicht immer gut sein muss, die vielleicht auch mal nach hinten gehen kann, aber trotzdem weiß unsere Wissenschaft heute mehr, als sie früher wusste und ist unsere Technik heute weiter ausdifferenziert und komplexer, als sie es noch vor 100, 200, 300 Jahren war. Auf der Ebene der Produktionsverhältnisse können wir dann von ´ner steigenden Komplexität und der Aufhebung des Alten im Neuen sprechen, weil zum Beispiel die kapitalistische Produktionsweise Elemente der feudalen Produktionsweise in sich enthält, aber komplexer ist und neue Elemente dazu bekommen hat. Und weil zum Beispiel auch die Ausbeutung ´ne ganz neue Dimension bekommen hat und in ´ner gewissen Weise diffuser in der Gesellschaft verankert wurde. Und ich hatte ja grad schon gesagt, dass nicht jede Entwicklung in Wissenschaft und Technik gut ist. Wenn wir zum Beispiel uns in der Landwirtschaft ansehen, dass es Versuche gibt, für das Kapital bestimmte Pflanzen herzustellen, oder durchzusetzen, die sich nicht fortpflanzen können, damit die Bäuer*innen stärker an die kapitalistischen Unternehmen gebunden werden, dann ist das keine gute Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Es ist ´ne Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik, weil hier neues Wissen angewandt wurde, aber in ´nem Sozialismus würden wir diese Technik nicht anwenden. Aber trotzdem stellt sich dann natürlich die Frage – um nochmal zurück zu kommen zum Holocaust – wie können wir denn so Dinge wie den Holocaust verstehen? Und ich glaube, dass trotzdem ´ne materialistische Analyse hier weiter hilft, um einerseits die Probleme in der Produktionsweise zu sehen, etwa den Kapitalismus, der gefährdet ist und der sich dann faschistischer Herrscher bedient, um seine Existenz zu sichern. Und wo andererseits auch der Überbau im Zusammenhang mit dieser Basis betrachtet wird und daraus heraus dann verstanden wird, wie so etwas geschehen konnte. Denn der historische Materialismus – das haben wir häufiger klar gemacht – ist ja das Erfassen von Widersprüchen in der Realität. Und Widersprüche sind eben keine weiche und unschuldige Entwicklung nach vorne, sondern Widersprüche entladen sich manchmal auch in revolutionären und auch manchmal in negativen Explosionen. Und den letzten Punkt, den ich auch noch machen würde, ist: wenn wir uns zum Beispiel den Sozialismus anschauen, warum ist der Sozialismus „gescheitert“? Widerspricht das nicht auch der Fortschrittslogik? Es gab schon Sozialismus und dann ist das wieder zurückgegangen. Weil das missversteht auch schon wieder glaub ich die große Dynamik, die in der Geschichte enthalten ist. Weil Übergänge eben nicht immer geradeaus sind und meistens lang und sich über längere Zeiträume erstrecken. Das können wir am besten an der Entstehung des Kapitalismus betrachten, der auch über verschiedene Jahrhunderte hinweg entstanden ist und sich erst in der Gesellschaft verankern musste und das heute noch in manchen Bereichen tun muss. 

(L) Ja und ich würde hier auch nochmal drauf verweisen, dass der dialektisch und historische Materialismus auch kein starres Prognosemodell ist, das nur einen starren Fortschritt kennt, auch wenn wir das nicht moralisch deuten. Der Fortschritt kann ja als Notwendigkeit gesehen werden, aber es kann eben auch Zufälligkeiten geben. Also zum Beispiel bei der Entwicklung der Dinosaurier gab es ja den Kometen-Einschlag, oder ein anderes Unglück, weshalb die ausgestorben sind und das war natürlich in der Entwicklung, in der Evolution erst mal ein Rückschritt, weil enorm viele Arten, die riesig waren, die weiter entwickelt waren, als vielleicht andere die überlebt haben, sind ausgelöscht worden und deren Genspur wurde einfach ausgelöscht, aber die Arten, die überlebt haben und die Tiere, die haben sich danach wieder weiter entwickelt und haben teilweise auch genetische Verwandtschaften mit zum Beispiel den Dinosauriern in ihrem Erbgut und sich dann eben trotz dieses Rückschritts, wieder weiter entwickelt. Und so kann man dann sehen, dass über die Jahrmillionen hinweg, gab es dennoch einen Fortschritt, auch wenn es kurzzeitig einen Rückschritt gab. 

(Y) Ja, da kann ich nichts hinzufügen, glaub ich. Um dich noch mal ´n bisschen in die Ecke der Antwortenden zu drücken, hab ich auch noch ´ne letzte Frage um jetzt auch nochmal ´n bisschen davon wegzukommen. Wir haben ja in unserer letzten Episode darüber gesprochen, dass die Produktionsverhältnisse an ´nem bestimmten Punkt theoretisch zu Fesseln für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte und damit auch der Gesellschaft werden können. Und du hattest da ja das Beispiel mit der Sklaverei genannt. Wo würdest du denn aktuell im Kapitalismus Indizien sehen, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eher zu Fesseln geworden sind, als zu Treibern der Produktivkräfte und der menschlichen Entwicklung?

(L) Ich glaub, da gibt´s mehrere Beispiele und ich werde jetzt wahrscheinlich viele ignorieren, aber ein Beispiel, das grade auch ganz aktuell ist, ist das intellektuelle, oder das geistige Eigentum, also Patente. Die sollen ja eigentlich dafür sorgen, dass Menschen motiviert sind, neues zu entwickeln und damit ja auch die Entwicklung der Produktivkräfte antreiben. Aber solche Rechte an entwickelten Produkten halten dann oft sehr lange, auch wenn das Geld das in die Entwicklung investiert wurde, schon längst wieder drin ist. Und da gibt´s zum einen natürlich die Frage der Gerechtigkeit, wie Verwerfungen, weil Medikamente dadurch teuer sind, oder dass die Grundlagenforschung gar nicht von dem Privaten durchgeführt wurde, aber abgesehen von dieser Frage, die wir uns natürlich stellen können, hindert es auch weitere auch kapitalistische Innovationen und wird damit zum Bremser der Entwicklung der Produktivkräfte selber. Also, ein Produkt kann dann nicht weiter entwickelt werden um besser zu werden, weil das nur von dem Unternehmen, oder dem Patentinhaber weiterentwickelt werden kann, das die Rechte inne hat. Und so behindert das neue Innovationen und damit die Fortentwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte. Ein zweites Beispiel – das Thema hatten wir ja schon öfter am Rand angesprochen, einfach weil es im Hinblick auf die großen globalen Konzerne super aktuell und relevant  ist, meiner Meinung nach – das ist die Monopolbildung. Also Unternehmen werden immer größer, kaufen kleinere Unternehmen auf und anstatt innovativer zu werden und neue Technologien zu entwickeln, versuchen sie einfach jede Konkurrenz im Keim zu ersticken. An denen zwei Beispielen finde ich kann man einfach ganz gut sehen, dass die Logik des Kapitals, immer mehr Gewinn zu machen und gegen die Konkurrenz anzukämpfen, die Konkurrenz zu besiegen, anstatt mit ihr zusammen zu arbeiten, dass die in der Konsequenz dazu führt, dass die Konkurrenz dann wieder verunmöglicht wird, durch Patente, durch Monopole. Und damit auch die Innovationsfähigkeit, die eigentlich mal die Triebkraft des Kapitalismus war, dass die damit untergraben wird und an ihre Grenzen stößt. Und das zum Beispiel könnten wir dann in einem Modell, wie dem Sozialismus, das an diesem Punkt, wo die Konkurrenz sich selber verunmöglicht, sie eben aufhebt und im Sinne des allgemeinen Interesses weiter entwickelt und produziert. Und an diesem Punkt, an dem die Konkurrenz selber dazu führt, dass sich die Konkurrenz abschafft, kann zum Beispiel ein sozialistisches System ansetzen und wieder Innovationskraft fördern, nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen. 

(Y) Ja, wenn wir jetzt auf Youtube wären, würden wir wahrscheinlich sagen „schreibt noch eure Beispiele in die Kommentare“, aber bei Spotify und so weiter geht das ja nicht so gut, deswegen erzählt am besten euren Freunden und eurer Familie ganz viele Beispiele, warum der Kapitalismus überwunden gehört und warum die aktuellen Produktionsverhältnisse – erklärt ihnen am besten noch, was Produktionsverhältnisse sind – die Produktivkraftentwicklung – das solltet ihr auch erklären – aufhalten.

(L) Gibt also viel zu erklären, aber dafür haben wir ja ´nen guten Podcast. Ja und dann schließen wir auch schon wieder mit der Folge und beenden damit das Themenfeld zu dialektischem und historischem Materialismus, zumindest fürs Erste. Aber vielleicht könnt ihr hier und da was mitnehmen und das in anderen Themenfeldern anwenden. Für uns und viele andere Marxist*innen ist diese Art und Weise auf die Welt zu schauen sehr hilfreich und strukturiert auch das Denken und die Analyse.

(Y) Gebt uns also gerne wie immer eine Rückmeldung, wir freuen uns über jede Nachricht, die wir bekommen, ob ihr nach unseren Folgen ´n bisschen mehr was damit anfangen könnt, oder ob es euch immer noch völlig ratlos stehen gelassen hat. Ihr könnt uns über Instagram schreiben, oder über unsere Mail, dir wir in den Shownotes verlinkt haben. 

(L) Und da findet ihr übrigens auch den Link zu den Transkripten zu unserem Podcast und zu unserem ko-fi Account, wo ihr uns unterstützen könnt, wenn ihr wollt. Und wir freuen uns dann, wenn ihr auch bei der nächsten Folge wieder zuhört.

(Y) Wie immer gehen am Ende der Folge wieder Grüße raus und zwar grüßen wir dieses Mal den Dietz-Verlag in der DDR. Die haben nämlich angefangen, die Marx-Engels-Werke herauszugeben. Wir hoffen natürlich, dass diese wichtige Arbeit die kommenden Generationen von Marxist*innen voranbringt.

- Musik wird abgespielt -