C3-Radio

Das Paulo Freire Zentrum ist 20!

Season 2 Episode 7

07.10.2024
C3-Radio
Das Paulo Freire Zentrum ist 20!


Das Paulo Freire Zentrum in Wien wird 20 Jahre alt! 2004 gemeinsam von ÖFSE und Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik gegründet, beschäftigt sich das Paulo Freire Zentrum seither mit dem Denken und Wirken des brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire und überträgt dessen Lehren in eine kritische Bildungsarbeit. Veranstaltungen, Forschung, ein online-Magazin, die regelmäßig stattfindende Österreichische Entwicklungstagung und vieles mehr bietet das Paulo Freire Zentrum für Interessierte.

Paulo Freire war ein brasilianischer Pädagoge und Philosoph. In seinem Denken betonte er die Bedeutung von Bildung als Werkzeug zur Befreiung von sozialen Ungerechtigkeiten. Sein Ansatz forderte die aktive Teilnahme der Lernenden, kritisches Denken und vor allem den Dialog als Methode, um Bewusstsein über Ungleichheiten zu schaffen und soziale Veränderung zu fördern. Eine Biographie von Paulo Freire finden sie hier

Paulo Freire - ein Denker vom Rand des Weltgeschehens. Aber was war an seinen Ideen so außergewöhnlich? Inwiefern ist sein Denken heute noch relevant? Und was sind die aktuellen Probleme in der kritischen Bildung? Darüber haben wir mit den Wegbegleiter*innen des Paulo Freire Zentrums, Andreas Novy, Ulli Vilsmaier und Sarah Funk, gesprochen.

Mehr Informationen zum Paulo Freire Zentrum.


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Host: Phillip Strobl
Stimmen: Andreas Novy (Gründer des Paulo Freire Zentrums, WU Wien), Ulli Vilsmaier (Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des Paulo Freire Zentrums, Responsive Research) und Sarah Funk (ehemalige Praktikantin des Paulo Freire Zentrum, Science Center Network).

Musik by Alisia from pixabay

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C3-Radio: Das Paulo Freire Zentrum ist 20!

Transkript

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00:00:19 Phillip Strobl
Das ist das C3-Radio, mein Name ist Philipp Strobl und heute blicken wir ohne meine Kollegin Emma, die aktuell anderweitig im Einsatz ist, auf das jährige Jubiläum des Paulo Freire Zentrums. Das Paulo Freire Zentrum betreibt, wie der Name schon verrät, eine von Paulo Freire inspirierte entwicklungspolitische Bildungsarbeit, die Weltprobleme im Zusammenhang mit vor Ort Problemen reflektiert und bearbeitet. Als wissenschaftsbasierte Einrichtung bietet das Freire Zentrum Akteur innen entwicklungspolitischer Institutionen Raum für die notwendige kritische Reflexion ihrer Arbeit an. Es stellt eine Brücke zwischen entwicklungspolitischer Szene und anderen Sektoren der österreichischen Gesellschaft dar. Humanist, Volkspädagoge, Denker vom Rande des Weltgeschehens. Der Brasilianer Paulo Freire hat viele Zuschreibungen und Namen erhalten. Ob er selbst diesen Bezeichnungen zustimmen würde, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Was wir aber sagen können ist, dass er mit seinem in den 60er Jahren entwickelten Alphabetisierungsprogramm Menschen nicht nur das Lesen und Schreiben beibringen wollte. Vielmehr stellen seine Ideen, Methoden der Bewusstseinsbildung und der Selbstermächtigung dar. Sie sollen bilden und kritische Reflexionen möglich machen. Initiiert und ermöglicht wurde das Paulo Freire Zentrum im Jahr 2004 durch eine Kooperation von ÖFSE und Mattersburger Kreis. Wie wichtig Paulo Freire und seine Ideen auf das Bildungssystem bezogen, aber auch gesamtgesellschaftlich betrachtet bis heute, rund dreißig Jahre nach seinem Tod sind, darüber und über noch viel mehr habe ich mit Andreas Novy gesprochen. Er hat das Paulo Freire Zentrum im Jun. 2004 gegründet und war bis 2014 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats.

 00:02:11 Andreas Novy
In Brasilien war das sehr erfolgreiche Alphabetisierungsprogramm damals eine doppelte Gefahr. Das eine ist, dass Alphabetisierung in seinem Verständnis ja ermächtigend und in seinem Verständnis die Welt lesen lernen auch heißt, interventionsfähig zu werden, sie gestalten zu können, was für manche, die gewohnt waren zu herrschen, natürlich eine Bedrohung war. Und die Alphabetisierung der Landlosen war natürlich eine Bedrohung für die zweitausendein Großgrundbesitzer, die dann auch eben eine Militärdiktatur befürwortet, vorangetrieben haben. Verschärfend ist damals noch dazu gekommen, dass das Wahlrecht gekoppelt war an die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Also es ist doppelt gefährlich gewesen. In dem Sinn war eben Bildung gefährlich. Und eine Bedrohung, die Organisation in Brasilien dieses freireanische Bildungsideal am konsequentesten umsetzt, ist die Landlosen Bewegung. Die Landlosen Bewegung ist eine Bewegung, die eben jährlich Todesfälle zu verzeichnen hat in ihrem Kampf um eine Landreform und eine Zweitausendein Gesellschaft in dem Sinn ist es ganz klar, dass eine kritische Pädagogik, die eben selbst und Weltveränderung will, natürlich den gesellschaftlich Mächtigen, und das waren und sind Großgrundbesitzer, aber das sind natürlich auch Konzerne und Bergbauunternehmen und andere Interessen, gar keine große Freude haben mit organisierten und gebildeten armen Menschen.

 00:04:17 Phillip Strobl
Warum ist also jetzt kritische Reflexion oder kritische Bildung auch so wichtig, auch heutzutage noch?

 00:04:22 Andreas Novy
Eine der Sachen, um die es ja Paulo Freire gegangen ist, ist damals ja nochmal ganz extrem die Bevölkerungsmehrheit, die machtlos war, zu aktiven Gestaltern, Gestalterinnen des Gemeinwesens zu machen. Und Bildung war da ein Beitrag. Und was war dann das, worum es in den Bildungsbemühungen, im Lesen und im Schreiben, also im Verstehen und im Gestalten der Welt gegangen ist? Es ging ja nicht nur darum, Buchstaben zu lernen, sondern die Welt zu verstehen. Und die Welt zu verstehen heißt, und das ist damals in den er Jahren, wenn man das jetzt nochmal die Pädagogik der unterdrückten liest, da ist dieses Wort Mythos ganz, ganz wichtig, von einem mythischen Weltverständnis zu einem mündigen überzugehen. Wenn man sich die Politik in Österreich anschaut und eben im Umgang mit Klimawandel und in der Leugnung der Dringlichkeit des Problems, hat man schon auch ein bisschen das Gefühl, dass es da in diesem Verzögern allen dessen, was notwendig ist, schon auch so mystische Elemente drinnen sind, wo frerianisches, emanzipatorisches zweitausendeinundzwanzig Denken hilfreich wäre, in dem Sinn, dass man das, was ist, diese Welt, die sich in dramatischer Transformation befindet, zu verstehen und in der ganzen Dringlichkeit und das eben Jahrhunderthochwasser, die dann zunehmend alle 1015 Jahre passieren, eben keine Jahrhunderthochwasser mehr sind, sondern eine andere Welt, dass man das versteht, um dann eben, und das ist ja sein Kerninteresse, handlungsfähig zu sein und eine andere Beziehung von uns Menschen zur Natur zu gestalten.

 00:06:37 Phillip Strobl
Das zu verstehen und handlungsfähig zu sein, wird vermutlich jetzt auch dazu führen, dass man systemkritischer wird oder mehr Menschen an, die systemkritisch sind. Ist es daher, vielleicht ein bisschen salopp formuliert, auch unerwünscht, zu sehr, zu viele Personen zu haben, die diese Handlungsfähigkeit, dieses Verständnis haben, zweitausendein für das System wäre?

 00:06:57 Andreas Novy
Naja, natürlich. Also das ist natürlich selbstverständlich, dass das ist. Und natürlich haben die, die den Status quo verteidigen, erst einmal einen Riesenvorteil, dass sie über viel mehr Ressourcen verfügen und in keiner Weise dumm sind und natürlich auch lernen und die Möglichkeiten Bewusstsein zu gestalten, sind heute über Social Media und andere Einflussmöglichkeiten viel anders und diverser als es damals war. Es bleibt aber das freireanische Anliegen zu schauen, wie schaffst du es eben zweitausendein trotzdem dieses kritische Denken zu erhalten. Und wenn vor 70 Jahren, wie die er er Jahre, wie dieses Denken auch entstanden und verfeinert wurde, wenn Systemveränderung notwendig war, in Brasilien auch dieser Übergang von einer zweitausendein Sklavenhaltergesellschaft zu einer Gesellschaft, wo alle in Würde leben können, dann ist das eben heute, dieses Systemverändernde nochmal klarer eine Notwendigkeit, weil eben neben den sozialen auch die ökologischen Veränderungen halt so drängend sind, dass ein weiter so nicht notwendig ist. Es ist ja durch die ökologische Krise ist es ja auch so, dass selbst für Konservative gilt, wenn sie das Beste bewahren wollen vom Bestehenden, dann muss sich was ändern. Also diese Art von, bleiben wir beim konkreten Österreich-aktuellen Thema, diese unverantwortliche Art von Bodenversiegelung gefährdet natürlich auch die Lebensvorstellung von Konservativen.

 00:09:19 Phillip Strobl
Paulo Freires Bildungsideen und Methoden wurden zum Teil also als Bedrohung wahrgenommen, weil sie darauf abzielen, Menschen zu ermächtigen und zu aktiven Gestalter innen ihrer Gesellschaft zu machen. Je mehr Menschen gebildet und alphabetisiert sind, desto eher können Macht und Einfluss der Herrschenden verändert werden. In Brasilien war das Alphabetisierungsprogramm eine doppelte Bedrohung. Zum einen, weil es Menschen befähigte, ihre Welt zu verstehen und zu verändern und zum anderen, weil das Wahlrecht an die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, geknüpft war. Für Großgrundbesitzer und andere Mächtige, die den Status quo bewahren wollten, war dies Grund genug, um repressive Systeme wie die Militärdiktatur zu unterstützen. In Nicaragua z.b. wurden Lehrer innen verfolgt und ermordet, weil sie Freires Methoden anwendeten. Dies geschah eben, weil Bildung als Bedrohung für bestehende Machtstrukturen galt und mancherorts auch heute noch gilt. Die landlosen Bewegung in Brasilien und andere Organisationen, die Freires Ideen umsetzten, waren ebenfalls mit Gewalt konfrontiert. Freires kritische Pädagogik ist, wie im Interview gehört, auch heute relevant, insbesondere im Hinblick auf ökologische und soziale Krisen. Bildung kann helfen, ein besseres Verständnis der Welt zu entwickeln und systemkritisches Denken zu fördern, was wiederum den Status quo gefährdet. Dass dies gerade den Mächtigen eher nicht gefällt, ist wohl selbstredend. Ein hoher Bildungsgrad und kritisches Denken können dabei helfen, die Gefahr von Fake News, Verschwörungsmythen und Social-Media einzudämmen. Im Mittelpunkt der Arbeit des Freire Zentrums steht übrigens dialogisch freireanische Bildung als eine Form transdisziplinärer Bildungsarbeit. Bildung ist Reflexion der Praxis und führt zu einer Veränderung und damit auch zu einer Verbesserung des eigenen Tuns. Sie ist kein Produkt, sondern versteht sich als selbstreflexiver Prozess. Über Bildung, kritische Reflexion und die Notwendigkeit des Dialogs habe ich mit Uli Vilsmaier gesprochen. Sie ist seit 2015 Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats und für responsive Research in der Schweiz tätig. Ein Unternehmen, das seine Expertise vor allem im Bereich der inter- und transdisziplinären Forschung hat.

 00:11:44 Ulli Vilsmair
Für Paulo Freire stand der Mensch in allem Tun im Mittelpunkt, stand die Idee eines Mehrmenschwerdens im Mittelpunkt. Und die Methode gewissermaßen dazu war ganz wesentlich im Dialog begründet. Und ganz wesentlich geprägt hat Paulo Freire Alphabetisierung. Paulo Freire hatte einen gänzlich anderen Zugang zu Alphabetisierung entwickelt. Anders im Vergleich zu der landläufigen Idee, Alphabetisierung bedeute, zweitausendein Buchstaben zu erlernen, um das Lesen und das Schreiben, um des Lesens und des Schreibens mächtig zu werden. Für Paulo Freire bedeutete Alphabetisierung die Welt lesen und schreiben lernen. Also eine Idee, die das gesamte Verhältnis eines Menschen zu seiner Mitwelt, zur Situation, in der der Mensch sich befindet, beinhaltet und darüber die Brücke geschlagen wird eben zur Ermächtigung dieser Kulturtechnik des Lesens und Schreibens. Das ist sicherlich im Zentrum seiner Arbeit. Paulo Freires Ansätze, die Welt lesen und schreiben zu lernen, haben allerdings viel weitergeführt als den engeren Bildungsbereich. Als wie vorhin genannt Volkspädagoge hat Paulo Freire vor allem mit Menschen gearbeitet, die in Unterdrückungsverhältnissen gebunden waren. Und mit seiner Arbeit, mit seinem Ansatz Befreiung verfolgt Befreiung aus Unterdrückungsverhältnissen. Insofern war der Weg zur Befreiung oder könnte man den Weg zur Befreiung auch als ganz wesentliches methodisches Element bezeichnen, das für Paulo Freire über Bewusstwerdung, über Bewusstseinsbildung erfolgte. Also mehr denn je brauchen wir diese Ansätze, mehr denn je benötigen wir Räume für kritisches Denken und auch Fähigkeiten und Fertigkeiten, kritisches Denken zu entwickeln. Und das ist das zentrale Anliegen des Paolo Freire Zentrums, dieses Denken, aber auch die damit verbundene Praxis am Leben zu halten, weiterzuverbreiten, auch in die Aktualität unserer sozio-technischen Bedingungen, aber auch eben andere politischen Systeme, andere Epochen zu übertragen.

 00:14:40 Phillip Strobl
Kann man auch sagen, jetzt so knapp dreißig Jahre nach dem Tod, dass er ein Vorreiter der kritischen Forschung auch der heutigen Zeit war oder ist, nach wie vor?

 00:14:50 Ulli Vilsmair
Ich würde meinen, es gab verschiedene Wellenbewegungen in der Rezeption der Arbeit von Paulo Freire oder eben in der Verbreitung von den Ideen und den Ansätzen die Paulo Freire uns oder in die Welt gegeben hat. Und wesentlich war natürlich sein Einfluss auf die reformpädagogischen Bewegungen in Europa, in den er er Jahren wesentlich schon genannt sein Einfluss für eine neue Form des Theaters, des Theaters der Unterdrückten, aber eben auch der partizipativen Aktionsforschung. Und die Tatsache, dass es heute hunderte Zentren auf dieser Welt gibt, die sich mit dem Erbe Paulo Freire beschäftigen, die seine Ideen weiter am Leben halten, auch seinen Namen in sich tragen, in mit diesen Ideen und Ansätzen ist schon ein Indikator dafür, dass hier ein Fortbestehen dieser Ideen garantiert wurde. Ob genau in der gleichen Weise wirkmächtig wie in den er Jahren, jetzt bezogen auf unsere Breitengrade, da würde ich eher vorsichtig verneinen. Auf der anderen Seite sehen wir, dass Paulo Freire auch als Vordenker transdisziplinärer Forschung zunehmend auch wieder auftaucht in den aktuellen Diskursen, die sehr populär werden zum Thema Transdisziplinarität, zum Thema Transformation und entsprechend transdisziplinäre und transformative Forschung, dazu tragen wir als Paulo Freire Zentrum sicherlich auch bei. Wenn man aber freireanisches Denken wirklich in seine Arbeit inkorporieren möchte, so ist dieses zentrale Element des Denken Paulo Freire ist, dass Praxis, echte Praxis, in einer Verschränkung von Aktion und Reflexion besteht. Ganz elementar. Das fordert uns heraus in unserer Zeit. Das fordert Institutionen, die unter einem unglaublichen ökonomischen Druck stehen, in kompetitiven Verhältnissen zueinander stehen, wo Kooperation vielleicht der Wunsch ist, deren Aufgabe es ist, ausreichend Geld für Gehälter aufzustellen, ausreichend Geld für Aktivitäten zu akquirieren, aber dafür unter Umständen die Quellen immer mehr versiegen. Und das ist sicherlich ein Ringen und eine wichtige Rolle des Paulo Freire Zentrums, hier auch Unterstützung zu bieten. Denn um noch mal zurückzukommen auf Paulo Freire, wenn Aktion und Reflexion nicht in Balance stehen, so kippt auch eine wirkmächtige Praxis. In den Worten von Paulo Freire lautet das im Wort begegnen wir zwei Dimensionen der Reflexion und der Aktion in so radikaler Interaktion, dass, wenn eines auch nur teilweise geopfert wird, das andere unmittelbar leidet. Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht zugleich Praxis wäre. Ein wirkliches Wort sagen heißt daher die Welt verändern.

 00:18:31 Phillip Strobl
Paulo Freire strebte also eine ganzheitliche Ermächtigung der Menschen, ihre soziale und politische Realität zu verstehen und zu verändern, an. Freires Methoden basieren auf der Verbindung von Aktion und Reflexion, um Menschen in Unterdrückungsverhältnissen zur Selbstbefreiung zu verhelfen. Seine Ideen wurden nicht nur im Bildungsbereich angewandt, sondern auch in anderen Bereichen wie der partizipativen Forschung. Und dem Theater. Das Paulo Freire Zentrum hat die Aufgabe, seine Prinzipien lebendig zu halten, indem es Raum für kritisches Denken und Reflexion schafft, was in unserer zunehmend fragmentierten und beschleunigten Gesellschaft besonders wichtig ist. Es fördert Dialoge zwischen verschiedenen Institutionen und unterstützt transdisziplinäre Ansätze, die auf Freires Ideen basieren. Selbst wenn man für einen Moment annimmt, dass alle Hürden für den Zugang zu Wissen und Bildung heute aufgehoben würden, stellt das Freire Zentrum die wie funktioniert die Vermittlung dieses Wissens? Damit das Endziel jeglicher Entwicklungsforschung erreicht werden kann, zweitausendein, nämlich die Aufhebung der Unterdrückung, reicht es aus, möglichst viele Personen in die etablierten Bildungseinrichtungen zu bringen? Das Paulo Freire Zentrum sagt gemeinsam mit Paulo Freire nein, das reicht nicht aus. Es kommt auf die Art und Weise des Unterrichts und die ideologische Vorstellung von Bildung an. Sarah Funk setzt sich in ihrer Tätigkeit beim Verein Science Center Netzwerk dafür ein, dass Wissenschaft für alle Menschen begreifbar, zugänglich und nutzbar ist. In ihrer Arbeit gibt es viele Überschneidungen mit den Ideen und Zugängen von Paulo Freire. Darüber hat sie mir im vier Augen Gespräch berichtet.

 00:20:17 Sarah Funk
Wir sind ein gemeinnütziger Bildungsverein mit Sitz in Wien, der sich auf partizipative und dialogische Wissenschaftsvermittlung spezialisiert hat. Uns ist es ganz wichtig, in einem gesellschaftlichen Klima, das von zunehmender Wissenschaftsskepsis auch geprägt ist, vertrauensvolle Begegnungen zu schaffen mit Wissenschaft, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die eben von gegenseitigem Respekt, von Dialog und eben auch von Vertrauen geprägt sind. Und im Zuge dessen gehe ich ganz viel an Unis und Fachhochschulen, mache Trainings und Fortbildungen für Wissenschaftlerinnen, die sich eben dafür interessieren, dialogisch Wissenschaft zu vermitteln und in einen Dialog mit der Öffentlichkeit zu gehen. Und was ich da ganz, ganz fein finde und auch spannend und wo ich eigentlich gleich den ersten Anknüpfungspunkt auch zu Paulo Freire ist, dass es da auch in diesen Trainings ganz viel darum geht, was Dialog auf Augenhöhe eigentlich ausmacht. Und dass es gerade auch für Experten und Expertinnen wichtig ist, in Gesprächen nicht nur sozusagen von sich zu erzählen und zu geben und Wissen zu vermitteln, auch wenn das natürlich ein ganz, ganz wichtiger Aspekt ist, sondern eben genauso zuzuhören, sich auf das Gegenüber einzulassen, sich für das Gegenüber zu interessieren. Das heißt, was wir in der Arbeit ganz viel machen, ist, Formate zu schaffen, wo solche vertrauensvollen Begegnungen zwischen Menschen und vor Forscher und Forscherinnen möglich sind. Wir sehen das als wichtigen Beitrag zu sozialer Inklusion und einfach auch, um zu zeigen, dass Wissenschaft ganz, ganz wichtig ist für unsere demokratische Gesellschaft, aber eben in einer Art und Weise, wo alle ein Teil davon sein können und selbst forschen und neugierig sein. Und dieses kritische Hinterfragen, überhaupt das Fragenstellen, das ist ja auch bei Freire ganz wichtig und angelegt. Ich würde sagen, das inspiriert uns auf jeden Fall auch in unserer Arbeit.

 00:22:10 Phillip Strobl
Was braucht es deiner Meinung nach, um ein Bildungssystem zu etablieren, das wirklich für alle zugänglich, fair und innovativ wäre?

 00:22:21 Sarah Funk
Es ist tatsächlich eine große Frage, eine spannende Frage. Ich glaube, es geht darum, Freiräume zu schaffen, dass Menschen sich ausprobieren und verwirklichen können. Ich glaube, im Bildungssystem wird sehr viel auch über Fehler gespielt, über richtig und falsch. Und darum geht es eigentlich nicht. Ich glaube, es geht darum, den Raum aufzumachen, neugierig zu sein, was auszuprobieren, zu scheitern, dranzubleiben, es nochmal zu probieren, was zu verändern. Und auf diese Weise lernt man dann, glaube ich, am allermeisten. Und Menschen sind unterschiedlich. Es wird keine eine Strategie, keine eine Lösung für alle Menschen geben. Aber ich glaube, wenn man, wenn man es schafft, diese Offenheit zu haben, diese Freiräume zu gestalten, dann hat man schon viel erreicht.

 00:23:10 Phillip Strobl
Paulo Freire und die zentralen Ideen seiner Pädagogik der Unterdrückten beinhalten also die kritische Bewusstseinsbildung, die Befreiung der Unterdrückten durch Bildung und den Dialog als zentrales pädagogisches Mittel. Freire kritisiert traditionelle Bildung als einseitig und unterdrückend, da sie Lernende als passive Empfänger von Wissen betrachtet. Stattdessen fordert er eine dialogische und partizipative Pädagogik, bei der Lehrende und Lernende gemeinsam Wissen erschaffen und soziale Ungerechtigkeiten hinterfragen. Auch rund dreißig Jahre nach seinem Tod setzt das Paulo Freire Zentrum seine Ideen praktisch um. Es fördert kritische Bildung, die sich auf soziale Gerechtigkeit, Partizipation und Befreiung konzentriert. Das Zentrum schafft Plattformen für Dialog Forschung und politische Bildung, um Machtstrukturen zu analysieren und Handlungsmöglichkeiten für marginalisierte Gruppen aufzuzeigen. Zweitausendein der Mehrwert des Zentrums liegt darin, Freires Theorien in aktuellen sozialen und politischen Kontexten anzuwenden und dadurch zur Förderung von Demokratie und sozialem Wandel beizutragen. Das Freire Zentrum engagiert sich seit 20 Jahren für dieses Denken. Ein Denken, das im Jahr 2024 mit all den globalen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen wichtiger ist denn je. Zweitausendein also in diesem alles Gute zum 20. Geburtstag, liebes Paulo Freire Zentrum. Mögen noch viele Jahrzehnte der kritischen Reflexion und der Bewusstseinsbildung folgen. Werfen wir nun einen Blick in die nahe Zukunft. Es wartet nämlich schon der nächste Geburtstag auf uns. Am 4. Nov. Widmen wir uns dem jährigen Jubiläum des Journals für Entwicklungspolitik, das seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 1985 vom Mattersburger Kreis herausgegeben wird. Das Journal ist eine der führenden wissenschaftlichen Zeitschriften für Fragen von Entwicklungstheorie und Politik im deutschsprachigen Raum. Die Zielsetzung des Journals ist es, ein Forum für eine breite kritische Diskussion und Reflexion für verschiedene Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklungen in Süd und Nord zu bieten. Die Ideen und Gedanken von Paulo Freire begegnen uns in den unterschiedlichsten Formen, an den unterschiedlichsten Orten und im Zuge der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Themen, die dann doch alle irgendwie ineinander verflochten sind. Das wars auch schon wieder mit dieser Episode des C3-Radios. Wenn euch das gehörte gefallen hat, abonniert unseren Kanal und schreibt uns gerne eure Gedanken an c3radio@centrum3.at. Ich freue mich, wenn ihr auch am 4. November wieder dabei seid um 20.30 Uhr auf Radio Orange. Dann ist auch Emma wieder an meiner Seite. Bis dahin alles Liebe, machts es gut und wir hören uns.
 
 

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