Matthias Zehnders Wochenkommentar

Im Osten nichts Neues

Matthias Zehnder Season 3 Episode 8

«Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.» So lautet der Schluss von Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues». Die Verfilmung des Buchs von Edward Berger hat dem Roman neue Aktualität gegeben: «All Quiet on the Western Front» ist für neun Oscars nominiert. Roman und Film schildern die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus der Sicht des jungen Soldaten Paul Bäumer. Die zentrale Botschaft von Remarque ist dabei, dass es unmöglich ist, angemessen über die Kriegserlebnisse zu sprechen. Krieg lässt sich nicht darstellen. Das gilt bis heute. Es ist das grosse Problem der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg. Mein Wochenkommentar nach einem Jahr Krieg über die Unmöglichkeit der Kriegsberichterstattung.
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Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
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Im Osten nichts Neues


«Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.» So lautet der Schluss von Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues». Die Verfilmung des Buchs von Edward Berger hat dem Roman neue Aktualität gegeben: «All Quiet on the Western Front» ist für neun Oscars nominiert. Roman und Film schildern die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus der Sicht des jungen Soldaten Paul Bäumer. Die zentrale Botschaft von Remarque ist dabei, dass es unmöglich ist, angemessen über die Kriegserlebnisse zu sprechen. Krieg lässt sich nicht darstellen. Das gilt bis heute. Es ist das grosse Problem der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg. Mein Wochenkommentar nach einem Jahr Krieg über die Unmöglichkeit der Kriegsberichterstattung.


Mein Name ist Matthias Zehnder – ich gebe Ihnen hier jede Woche zu denken.

Mein Thema: Medien und die Digitalisierung.

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Als ich «Im Westen nichts Neues» zum ersten Mal gelesen habe, war ich 16 Jahre alt. Ich habe mich mit Haut und Haar mit Paul Bäumer identifiziert. Zu Beginn des Buchs ist Paul 19 Jahre alt. Er stand mir damals nicht nur altersmässig nahe. Paul hat noch keine Ausbildung, er hat sein Leben noch vor sich. Doch er wird eingezogen und in der Kaserne auf Krieg gedrillt. Wie habe ich damals mit Paul Bäumer gelitten. Das Buch ist aus der Perspektive von Paul in Ich-Form geschrieben. Nur der letzte Abschnitt nicht: Da berichtet ein anonymer Erzähler in sachlicher Sprache von Pauls Tod. Paul stirbt kurz vor Kriegsende, an einem Tag, an dem es so still ist an der ganzen Front, dass sich der Heeresbericht auf den einen Satz beschränkt, der dem Roman den Titel gab: «Im Westen nichts Neues.»

 

Ich war entsetzt über diesen sinnlosen Tod. Über diesen sinnlosen Krieg. Ich war überzeugt, dass es nach den Schützengräben von Verdun keinen Krieg mehr geben konnte. Doch wir wissen alle, dass der Frieden nach dem Ersten Weltkrieg nur gerade 21 Jahre Bestand hatte. 1939 schickten Hitler und seine Generäle die nächste Generation von jungen Männern in den nächsten sinnlosen Krieg. Wieder zermalmten Panzer und Granaten die Leben von Millionen von Menschen. Wieder war das Grauen jenseits jeder Darstellbarkeit. Wieder schrieb Erich Maria Remarque Romane, die wenigstens das Schicksal einzelner Menschen erlebbar machen. In «Arc de Triomphe» ist es Ravic, ein aus Deutschland nach Paris geflüchteter Arzt. In «Zeit zu leben und Zeit zu sterben» erlebt Wehrmachtssoldat Ernst Graeber die Grauen des Zweiten Weltkriegs an der Ostfront. Ich habe die Bücher verschlungen und war überzeugt: Jetzt ist Krieg nicht mehr möglich. Kriege sind zu grauenhaft.


Und trotzdem herrscht wieder Krieg in Europa. Seit einem Jahr sterben in der Ukraine wieder junge Männer wie Paul Bäumer und Ernst Graeber im Kreuzfeuer der Artillerie. Diesmal tragen sie nicht deutsche oder französische Uniformen, sondern ukrainische und russische. Es ist einerlei. Es sind junge Männer, die ihr Leben noch vor sich hatten. Die träumen, lieben, hoffen, bis sie von einer Kugel, einem Schrapnell oder einer Granate getroffen werden. Wieder ist es ein Diktator, der mit seiner Armee ein Nachbarland überfällt, die jungen Männer rücksichtslos in die Schlacht schickt und den Tod von Tausenden von Zivilisten nicht nur in Kauf nimmt, sondern mit Raketen sogar gezielt sucht. 


Von den Schlachtfeldern erreichen uns Bilder, die auf gespenstische Art an den Ersten Weltkrieg und seine Schützengräben erinnern, an die Knochenmühle von Verdun, den sinnlosen Kampf um ein paar Meter Fortschritt. Es erreichen uns Bilder von zerbombten Häusern, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern, die sinnlose Zerstörung von Städten, Kraftwerken, Brücken. Und wir haben gedacht, wir hätten das Grauen des Krieges endlich überwunden.


Die Medien können diesem Grauen nicht gerecht werden. Im besten Fall berichten sie nüchtern über den Verlauf des Kriegs. Das hört sich dann ähnlich an wie die letzten Zeilen des Romans von Remarque, die in sachlichem Ton vom Tod von Paul Bäumer berichten. Vor diesen sachlichen Bericht hat Remarque aber eine Erzählung von über 280 Seiten Länge gestellt. Nur deshalb verstehen wir, was diese letzten Zeilen bedeuten. Jeder einzelnen Nachricht aus dem Ukraine-Krieg müssten wir einen solchen Roman zur Seite stellen, um zu verstehen, welche Schicksale dahinter stehen. Das ist natürlich nicht möglich.


Seit die russische Armee die Ukraine überfallen hat, sind in dem Land mehr als hundert­tausend Menschen getötet worden. Hunderttausend Leben. Hundert­tausend Romane wären nötig, sie zu erzählen. Das Onlinemagazin «Republik» erzählt heute 18 dieser ausgelöschten Leben in kurzen Nachrufen. Es ist, als wolle man das Meer mit einer Muschel ausschöpfen. Natürlich ist das unmöglich. Es zu versuchen, ist aber immerhin besser, als gar nichts zu tun.


Unerträglich sind mir vor diesem Hintergrund reisserische Schlagzeilen über den Krieg, die Mutmassungen pensionierter Generäle, das siegesgewisse Zähnefletschen russischer Politiker. In den Zeitungen ist die Berichterstattung über den Krieg längst von der Frontseite verschwunden. Online ist der Krieg zu einer Rubrik geworden auf den Websites der Medien, einer elektronischen Schublade zwischen «FC Basel» und «Meinungen», in der das Grauen säuberlich chronologisch aufgelistet wird. Karten und Grafiken gaukeln Übersicht vor. Zahlen geben die Illusion, der Schrecken sei berechenbar. 


Verstehen Sie mich recht: Die meisten Medien machen gute Arbeit. Berichten vorsichtig, ordnen ein, benennen Propaganda. Einige nutzen aber den Krieg für den Kampf um die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser. Das Resultat sind Schlagzeilen, die dem endlosen Schrecken eine banale Klick-Dringlichkeit verpassen. Mediale Kriegs-Fledderei. Oder sie reihen in «Live-Blogs» kurze Nachrichten aneinander. Live-Ticker zum Krieg, als wäre es ein Fussballspiel.


Ich persönlich informiere mich über «Spiegel», «Zeit» und «NZZ» und ich höre regelmässig den Podcast «Streitkräfte und Strategien #Ukraine». Der Podcast erscheint zweimal pro Woche: Jeweils dienstags und freitags sprechen die langjährigen ARD-Korrespondenten Anna Engelke und Carsten Schmiester mit sicherheitspolitischen Experten und beantworten Fragen rund um den Krieg. Es sind ruhige und sachliche Analysen ohne Effekthascherei. Es ist der Versuch, dem Wahnsinn rational zu begegnen. 


Eigentlich geht das nicht. Ich empfehle Ihnen deshalb, «Im Westen nichts Neues» zu lesen. Natürlich können Sie sich auch den Film anschauen, mir gehen aber manche Bilder darin zu weit. Der Film ist gut, ich hoffe, er wird einige der Oscars, für die er nominiert ist, auch gewinnen. Aber ein Film ist immer auch ein Spektakel und das passt für mich in diesem Fall nicht recht. Mit dem Buch können Sie sich dagegen ohne Ablenkung in den Kopf von Paul Bäumer versetzen. In den Kopf der jungen Soldaten, die in die Schützengräben gezwungen werden. 


Soldaten wie die jungen Männer, die jetzt im Osten der Ukraine stehen und kämpfen. Denken Sie an die jungen Männer, gerade dann, wenn es in den Medien heisst: «Im Osten nichts Neues».


Soviel für heute. Drücken Sie doch noch schnell den Abonnieren und den Gefällt mir Knopf, dann hören wir uns in einer Woche wieder.

Alles Gute.