
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Wann ist ein Foto ein Foto?
Mobiltelefone sind heute mit Abstand die wichtigsten Fotografier-Apparate. Aber sind sie das wirklich? Was machen die kleinen Geräte genau, wenn sie ein Foto schiessen? Diese Fragen stellen sich seit dieser Woche ganz neu. Amerikanische Entwickler haben nämlich bewiesen, dass das neue Samsung-Handy schummelt, wenn es den Mond fotografiert: Es sorgt mit technischen Tricks dafür, dass der Mond auf dem Bild besser aussieht. Und zwar nicht nur besser als bei der Konkurrenz, sondern auch besser als in der Realität. Es stellt sich deshalb die Frage: Was machen wir genau, wenn wir mit einem Handy ein Foto schiessen? Sind Mobiltelefone wirklich Fotografier-Apparate? Oder anders gefragt: Wann ist ein Foto ein Foto? Mein Wochenkommentar über eine Technik, die sich immer selbstbewusster zwischen die Menschen und die Realität schiebt. Oder gibt es diese Realität so gar nicht?
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Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
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Wann ist ein Foto ein Foto?
Mobiltelefone sind heute mit Abstand die wichtigsten Fotografier-Apparate. Aber sind sie das wirklich? Was machen die kleinen Geräte genau, wenn sie ein Foto schiessen? Diese Fragen stellen sich seit dieser Woche ganz neu. Amerikanische Entwickler haben nämlich bewiesen, dass das neue Samsung-Handy schummelt, wenn es den Mond fotografiert: Es sorgt mit technischen Tricks dafür, dass der Mond auf dem Bild besser aussieht. Und zwar nicht nur besser als bei der Konkurrenz, sondern auch besser als in der Realität. Es stellt sich deshalb die Frage: Was machen wir genau, wenn wir mit einem Handy ein Foto schiessen? Sind Mobiltelefone wirklich Fotografier-Apparate? Oder anders gefragt: Wann ist ein Foto ein Foto? Mein Wochenkommentar über eine Technik, die sich immer selbstbewusster zwischen die Menschen und die Realität schiebt. Oder gibt es diese Realität so gar nicht?
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Wer den Mond einigermassen bildfüllend fotografieren will, braucht eine gute Kamera, ein starkes Zoom-Objektiv und eine sehr, sehr ruhige Hand oder ein Stativ. Sonst sieht auch der grösste Supermond auf den Fotos enttäuschend klein und unscheinbar aus.
Diese Woche hat in der Tech-Community eine, sagen wir, ausserordentliche Fotofähigkeit eines Mobiltelefons zu reden gegeben. Es geht um das Galaxy S23 Ultra von Samsung. Die Kamera des Telefons ist mit einem 100fach-Zoom ausgestattet. Für alle, die sich mit Kameras nicht auskennen: Das ist auch für eine grosse Spiegelreflexkamera eine sehr starke Vergrösserung. Es würde etwa einem 1300-Millimeter-Objektiv entsprechen. Das sind Geräte von einem halben Meter Länge und über drei Kilogramm Gewicht, die so viel kosten wie ein Kleinwagen. Und so ein Objektiv steckt in einem Mobiltelefon?
Natürlich nicht. Die Bezeichnung «100fach-Zoom» ist, freundlich ausgedrückt, übertriebenes Marketing. Die Hersteller von Mobiltelefonen arbeiten mit einem Trick. Effektiv steckt in dem Handy ein Zoom-Objektiv, das eine etwa 8fache Vergrösserung bietet. Das entspricht etwa einer Brennweite von 100mm, also etwa so viel, wie sie ein gutes Zoom-Objektiv einer ganz normalen Spiegelreflexkamera bietet. Im Mobiltelefon steckt aber ein Computer. Und der kann mehr. Er kann ein Bild hochrechnen. Deshalb unterscheidet man bei Mobiltelefonen zwischen dem optischen Zoom, das durch Linsen produziert wird, und dem digitalen Zoom. Das bedeutet schlicht, dass der Computer in der Kamera einen Ausschnitt des Bildes vergrössert. Und das sieht natürlich deutlich weniger gut aus als ein Bild, das mit einem optischen Zoom geschossen worden ist.
Für ein 100fach-Zoom muss das erwähnte Handy einen klitzekleinen Bildausschnitt des effektiv aufgezeichneten Bildes hochrechnen. Das Resultat ist alles andere als berauschend: Solche Bilder sind unscharf und sie wirken matt. Aber wozu steckt in einem Handy ein Computer? Die eingebaute Bildbearbeitung greift der Kamera unter die Schultern. Sie schärft das Bild und sorgt dafür dass die Farben satter wirken. So weit, so klar.
Offenbar beschränkt sich das Galaxy S23 Ultra von Samsung aber nicht auf diese Art der Bildverbesserung: Wenn man mit dem Handy den Mond fotografiert, sorgt der Computer dafür, dass die Strukturen des Mondes auf dem Foto deutlich zu sehen sind. Amerikanische Tech-Journalisten haben jetzt nachgewiesen, dass das resultierende Bild dabei mehr Informationen enthält als das Handy aufzeichnet. Mit anderen Worten: Das Handy schummelt.
Für den Test hat der Journalist seinen Computermonitor ein sehr unscharfes, verwaschenes Bild des Mondes anzeigen lassen. Dann hat er aus einiger Entfernung dieses Mondbild mit dem Handy und dem 100fach Zoom fotografiert. Auf dem resultierenden Bild des Mondes waren die Mondkrater schärfer abgebildet als auf dem Ausgangsbild. Das Handy hat das Bild des Mondes also mit einem gespeicherten Mondbild abgeglichen. Möglich ist das, weil der Mond von der Erde ausgesehen immer gleich aussieht. Pikant daran ist, dass die Firma das Wunderobjektiv als «Space Zoom» vermarktet und das entsprechende Handy mit Bildern des Mondes bewirbt.
Die Story vom «Moon Fake» hat sofort Schlagzeilen gemacht. Doch so überraschend kommen die falschen Mondbilder nicht. Denn die Kameras in unseren Mobiltelefonen schiessen schon lange nicht mehr einfach Fotos. Was die Handys machen, nennt sich «computational photography», auf Deutsch etwa «computergestützte Fotografie». Mit Fotografie hat das aber nur noch wenig zu tun.
Ein klassischer Fotoapparat fängt mit Hilfe einer Linse das Licht ein und projiziert es auf einen lichtempfindlichen Film oder eine Platte. In einer Digitalkamera steckt kein Film, sondern ein Bildsensor, also ein lichtempfindlicher Chip. Der wandelt das Licht in Strom um. Dieses Strommuster wird vom Computer in der Kamera ausgelesen und zu einem Bild zusammengesetzt. Schon das ist ein komplexer Vorgang.
Wenn ich eine normale Kamera in der Hand habe und auf den Auslöser drücke, öffnet sich in dem Moment für den Bruchteil einer Sekunde der Verschluss der Kamera und lässt Licht auf den Film oder den Sensor fallen. In einem Handy ist das ganz anders: Ein Mobiltelefon zeichnet eigentlich kein Foto auf, sondern ein Video. Der Computer an Bord wählt aus dem Video ein Standbild aus und speichert es ab. Manchmal errechnet die Kamera (oder das Telefon) aus mehreren Bildvarianten auch ein neues, optimiertes Bild. Bei Apple heisst diese Technik «HDR»: Das iPhone zeichnet mehrere Bilder mit unterschiedlichen Belichtungseinstellungen auf und kombiniert die Bilder dann zu einem einzigen Bild. Andere Mobiltelefone entfernen schon beim Fotografieren die roten Blitzaugen. Oder sie wählen aus einer Serie von Bildern automatisch das Bild aus, auf dem alle fotografierten lächeln. Oder sie kombinieren die Gesichter aus mehreren Fotos auf einem Bild.
Mobiltelefone schiessen also nicht einfach Fotos, sondern gleich ganze Stapel davon. Die Bordcomputer werten diese Stapel aus und kombinieren die Bilder aus dem Stapel zu einem neuen, optimierten Bild. Das Samsung-Handy geht bei diesem Vorgang offenbar einen Schritt weiter: Wenn es den Mond fotografiert, besteht der Bilderstapel nicht nur aus den Bildern, die das Handy grad geschossen hat, im Stapel liegt auch ein vorab gespeichertes Bild des Mondes. Dieses Soll-Bild wird beim Errechnen des Fotos mitberücksichtigt.
Dieses Verfahren lässt sich problemlos ausweiten. Denkbar ist, dass Mobiltelefone künftig über solche Soll-Bilder von Denkmälern, bekannten Gebäuden oder Aussichten verfügen. Dank der GPS-Ortung wissen die Mobiltelefone ja, wo und in welche Richtung das Bild geschossen wird. Wenn der Kamerabesitzer vor dem Bundeshaus in Bern steht, vor dem Matterhorn oder dem Basler Münster, kann das Telefon also errechnen, wie das Bild aussehen müsste. Wenn störende Wolken, Nebel, Tauben oder, Gott bewahre, andere Touristen das Bild stören, könnte die Kamera das Bild automatisch «verbessern».
Die Frage ist, wann ein Foto noch ein Foto ist. Samsung ist mit seiner Mond-Technik wohl zu weit gegangen. Und zwar nicht, weil die Mobiltelefone technisch Mondbilder mit einem vorabgespeicherten Bild abgleichen, sondern weil Samsung das nicht so klar kommuniziert hat. Die Werbung redet von «Space Zoom» und arbeitet mit Mondbildern. Das weckt andere Erwartungen. Apple hat immer offen gelegt, was ein HDR-Foto ist. Eigentlich ist auch ein solches Bild kein Foto, sondern eine Bildkomposition. Eine Montage aus mehreren Bildvarianten. Man könnte also HDR-Fotos als Fotomontagen bezeichnen.
Sicher ist: Die Technik schiebt sich immer selbstbewusster zwischen uns Menschen und die Realität. Dass Fotos im Nachhinein auf dem Handy oder am Computer bearbeitet werden – geschenkt. Dass Handys die Realität schon beim Fotografieren aufhübschen, das verändert auf Dauer aber unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wenn die Sonnenuntergänge schon auf dem Bildschirm der Handykamera immer schöner aussehen als in der Realität, die Blumen farbiger, der Mond detailreicher und die Menschen glücklicher, dann wird uns die Wirklichkeit über kurz oder lang nur noch enttäuschen. Wir sehen uns in der Situation von Menschen, die Tomaten nur noch stark gewürzt aus dem Fertigsaucenregal des Supermarkts kennen und eine richtige Tomate fad und langweilig finden.
Warum ist das so relevant? Weil die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, uns gar nicht zugänglich ist. Es gibt für uns nur wahrgenommene Wirklichkeit. Durch Augen, Ohren, Nase, Mund und vor allem durch das Hirn. Das aber ist ein unzuverlässiger Kompagnon. Das Hirn lässt sich nämlich gern beeinflussen. Zum Beispiel durch Tomatensuppe aus dem Supermarkt oder Mondbilder auf dem Handybildschirm. Es ist nämlich nicht nur wichtig, welche Sinneseindrücke die Augen oder die Ohren dem Hirn melden. Für die Auswertung der Eindrücke im Gehirn ist entscheidend, was es erwartet. Und das wird immer häufiger, Sie erraten es, von den kleinen, cleveren Gerätchen gesteuert, durch die wir unsere Umwelt wahrnehmen. Das Problem ist also weniger der Mond im Handy, als dass Handy im Hirn.
Soviel für heute. Drücken Sie doch noch schnell den Abonnieren und den Gefällt mir Knopf, dann hören wir uns in einer Woche wieder.
Alles Gute.