Matthias Zehnders Wochenkommentar
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Künstliche Intelligenz? Braucht es das wirklich?
Letzte Woche habe ich mit Ihnen über die Regeln nachgedacht, mit denen wir die KI einhegen müssen. Unter den Leserkommentaren zu meinem Beitrag fand sich nach kurzer Zeit dieser Satz: «Künstliche Intelligenz? Braucht es das wirklich?» Zuerst habe ich mich geärgert. «Braucht es das wirklich?» ist das klassische Totschlagargument. Damit können Sie alles verhindern, vom Theaterstück bis zur neuen Technologie. Es ist das Argument jener Menschen, die allen Veränderungen skeptisch gegenüberstehen. Aber eine Frage als Totschlagargument zu bezeichnen, ist selbst ein Totschlagargument. Deshalb habe ich nachgedacht und mich mit der Frage meines Lesers auseinandergesetzt. Das Ergebnis ist mein Wochenkommentar zur Frage, ob wir die künstliche Intelligenz brauchen.
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Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
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Künstliche Intelligenz? Braucht es das wirklich?
Letzte Woche habe ich mit Ihnen über die Regeln nachgedacht, mit denen wir die KI einhegen müssen. Unter den Leserkommentaren zu meinem Beitrag fand sich nach kurzer Zeit dieser Satz: «Künstliche Intelligenz? Braucht es das wirklich?» Zuerst habe ich mich geärgert. «Braucht es das wirklich?» ist das klassische Totschlagargument. Damit können Sie alles verhindern, vom Theaterstück bis zur neuen Technologie. Es ist das Argument jener Menschen, die allen Veränderungen skeptisch gegenüberstehen. Aber eine Frage als Totschlagargument zu bezeichnen, ist selbst ein Totschlagargument. Deshalb habe ich nachgedacht und mich mit der Frage meines Lesers auseinandergesetzt. Das Ergebnis ist mein Wochenkommentar zur Frage, ob wir die künstliche Intelligenz brauchen.
Mein Name ist Matthias Zehnder – ich gebe Ihnen hier jede Woche zu denken.
Mein Thema: Medien, die Digitalisierung und KI.
Mein Angebot: Konstruktive Kritik.
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Das Grundsätzliche vorab: Künstliche Intelligenz wird zu Veränderungen führen, die vergleichbar sind mit der Erfindung des World Wide Web. Ich erinnere mich an die Hoffnungen, die wir 1990 ins Web gesetzt haben. Wie wir von der Demokratisierung des Wissens geträumt haben, vom Cyberspace, als einer neuen Dimension ohne Grenzen. Programmierer fühlten sich als Pioniere an der «final frontier», wie John Perry Barlow es formulierte. Wir sind gemeinsam aufgebrochen in unendliche Weiten, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist (um auch noch «Star Trek» zu zitieren).
1990 haben wir auf das World Wide Web gehofft, wir haben es ersehnt, wir haben davon geträumt. Gebraucht haben wir es nicht. Wir wussten ja noch gar nicht, was es war. Das ist die Krux jeder wirklich neuen technologischen Entwicklung: Ob und wie die Menschen sie dereinst so benutzen werden, dass sie sie wirklich benötigen, ist zum Zeitpunkt der Entwicklung nicht abzusehen. Die Ausnahme bilden vielleicht neuartige Medikamente oder Behandlungsmethoden in der Medizin.
Die Technikgeschichte ist deshalb auch voller Fehleinschätzungen. Als John Pierpont Morgan 1882 mit der Hilfe von Thomas Alva Edison sein Privathaus an der Madison Avenue in New York elektrifizierte, schüttelte sein Vater Junius Spencer Morgan nur den Kopf. Er hielt die Elektrizität für einen Spleen von Edison, für eine vorübergehende Modeerscheinung. Er war überzeugt, dass es Elektrizität nicht braucht. Sein Sohn J.P. war anderer Meinung. Er unterstützte Edisons Bestrebungen, Amerika zu elektrifizieren, finanziell. Daraus entstand in mehreren Schritten das Unternehmen General Electric. Doch Vater Junius hatte recht: In seiner Welt brauchte niemand Elektrizität.
Ähnlich berühmt ist die Fehleinschätzung von C. T. Bridgman, dem Direktor der Michigan Savings Bank. Er riet 1903 Horace Rackham dringend davon ab, Aktien der Ford Motor Company zu kaufen. «Das Pferd wird bleiben, das Automobil ist nur eine Neuheit, eine Modeerscheinung», begründete der Bankdirektor seinen Rat. Rackham hörte zum Glück nicht auf ihn und kaufte Ford-Aktien.
Auch die Geschichte des Computers ist voller falscher Prognosen. Thomas Watson, der damalige Chef von IBM, erklärte 1943: «Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt.» Damit lag er, wie schon wenig später klar wurde, deutlich daneben. Und warum vergriff sich der gute Watson so in der Einschätzung genau jener Maschinen, mit denen sein eigenes Unternehmen später gross werden sollte? Weil er sich nicht vorstellen konnte, wozu man die Dinger brauchen könnte.
Auch Ken Olson, der Gründer der amerikanischen Computerfirma Digital Equipment Corp., bewies wenig Zukunftsphantasie, als er noch 1977 (!) erklärte: «Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus haben wollen würde.» Wäre ein Entwickler in seiner Firma mit dem Konzept eines Personal Computers in seinem Büro aufgetaucht, hätte Olson wahrscheinlich gefragt: «Personal Computer? Braucht es das wirklich?» Nein, 1977 «brauchte» niemand Personal Computer. Eine Welt, in der Heimcomputer wichtiger sind als Fernseher und Telefongeräte konnte sich Ken Olsen nicht vorstellen. Denn diese Welt ist erst durch die Verbreitung der Heimcomputer entstanden.
Das gilt auch für viele weitere technische Entwicklungen. Das iPhone zum Beispiel. Als Steve Jobs im Januar 2007 die Kombination aus Mobiltelefon, Browser und iPod vorstellte, wusste selbst Apple noch nicht, wie es eingesetzt werden könnte. Das wiederholte sich, als Apple 2014 die Apple Watch vorstellte. Beide Geräte wurden zur Basis eines ganzen Ökosystems von Anwendungen, von denen auch die Entwickler der Geräte keine Ahnung hatten, als sie die Technologie entwickelten.
Es liegt in der Natur von neuen Technologien, dass man oft nicht weiss, wozu man sie braucht. Bei manchen der Neuentwicklungen wird man es nie erfahren. Der Newton von Apple, ein früher Handheld-Computer, hat sich nie durchgesetzt. Er wurde 1993 als persönlicher digitaler Assistent eingeführt, überlebte aber nur fünf Jahre. Er ebnete zwar den Weg für Nachfolgegeräte, der Newton selbst aber scheiterte. Das gilt auch für das Bildtelefon, den 3D-Fernseher und die HD-DVD. Obwohl grosse Firmen viel Geld in die Entwicklung und Vermarktung dieser Technologien gesteckt haben, haben sie die Welt nicht verändert. Bis heute braucht sie niemand.
Kann es sein, dass es der Künstlichen Intelligenz genauso ergeht? Dass die KI im «Museum of Failure» im schwedischen Helsingborg landet? Nein, das ist nicht möglich. Künstlich intelligente Systeme sind längst Wirklichkeit. Nur stecken viele dieser Systeme unter der Haube von Anwendungen und sind nicht als KI-Systeme erkennbar. FaceID zum Beispiel, die Technologie, mit deren Hilfe iPhone-Nutzer ihr Gerät mit dem eigenen Gesicht entsperren können. Oder intelligente Assistenzsysteme in der Medizin, etwa Programme, die den Arzt bei einer endoskopischen Untersuchung des Darms auf mögliche Erkrankungen aufmerksam machen.
Künstliche Intelligenz ist am ehesten vergleichbar mit der Einführung der Elektrizität oder des World Wide Web. Es ist eine äusserst vielgestaltige, tiefgreifende Weiterentwicklung des Computers. Wie die Elektrizität wird die KI die Welt sehr grundsätzlich verändern. «Braucht es das wirklich?» ist eine Frage, auf die es keine Antwort geben kann. Anders gesagt: Es ist die falsche Frage. Würden wir uns diese Frage vor jeder Veränderung stellen, sässen wir heute noch in Höhlen (oder auf den Bäumen, um Kästner zu zitieren). Der springende Punkt ist, dass Entdeckungen und Erfindungen die Welt verändern. Wenn sie erfolgreich sind, entsteht eine Welt, die ohne diese Erfindungen nicht mehr funktioniert und ohne sie nicht mehr denkbar ist – und deshalb selbst wieder veränderungsavers wird.
«Braucht es das wirklich?» ist aber noch aus einem anderen Grund die völlig falsche Frage im Umgang mit der KI: Die Schaffung einer künstlichen Intelligenz ist ein Menschheitstraum wie das Fliegen. Lange bevor die technischen Voraussetzungen dafür auch nur ansatzweise gegeben waren, träumten die Menschen von einem maschinellen Gegenüber. Das waren nicht nur Wunschträume, dazu gehörten auch Ängste. Aber es ist wohl ein urmenschliches Bedürfnis, ein solches Gegenüber zu haben.
Wenn ich heute mit KI-Werkzeugen experimentiere, fühlt sich das manchmal an, als wäre dieser Traum wahr geworden: Ich habe eine Maschine, die reagiert, Befehle ausführt, Fragen beantwortet, mit mir zusammenarbeitet, mich herausfordert, meine Fähigkeiten erweitert, mich verbessert – und manchmal auch enttäuscht, banal und fehleranfällig ist. Nein, das ist alles nicht perfekt. Aber es ist aufregend. Es erweitert meine kreativen Möglichkeiten (und vielleicht reduziert es die Zahl der Rechtschreibfehler in meinen Texten). Ist das alles ein Hype? Sicher. Und der Absturz ins Tal der Tränen kommt bestimmt. Aber das ist bei jeder neuen Technologie so. Und ehe man sich versieht, ist sie alltägliche Normalität.
«Braucht es das wirklich?» ist die falsche Frage. KI ist eine Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Das gilt insbesondere für Kreative, für Medienschaffende und für Lehrerinnen und Lehrer. Sie, wir, müssen lernen, mit der KI zu arbeiten, sie zu nutzen, sie als Werkzeuge für unsere Ziele einzusetzen – und ihre Fehler und die damit verbundenen Gefahren zu verstehen. So, wie wir das mit dem Computer und dem Internet getan haben – oder mit der Elektrizität.
Also fragen Sie nicht «Braucht es das wirklich?» sondern «Wie kann ich das brauchen?»
Soviel für heute. Drücken Sie doch noch schnell den Abonnieren und den Gefällt mir Knopf, dann hören wir uns in einer Woche wieder.
Alles Gute.