
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Corona-Affäre, Berset-Affäre oder doch Medienaffäre?
Die Schweiz hat eine neue Medienaffäre: Aus dem Departement von Alain Berset sollen gleich serienweise Mails ans Verlagshaus Ringier geschickt worden sein. Dabei sei mehrfach das Amtsgeheimnis verletzt worden. Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments untersucht den Fall, einzelne Politiker fordern sogar eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) und den Rücktritt von Bundesrat Alain Berset. Es ist eine komplexe Mixtur aus Politik, Juristerei und Medien. Die Medien versichern ihren Lesern und Nutzern unterdessen ihre Unabhängigkeit. Welchen Einfluss haben solche Leaks auf die Medien? Welchen Einfluss hat die Vorab-Berichterstattung auf die Politik? Kann man das abstellen? Oder braucht es Leaks und Indiskretionen? Mein Wochenkommentar zur Medienebene der Coronaleaks.
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Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
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Corona-Affäre, Berset-Affäre oder doch Medienaffäre?
Die Schweiz hat eine neue Medienaffäre: Aus dem Departement von Alain Berset sollen gleich serienweise Mails ans Verlagshaus Ringier geschickt worden sein. Dabei sei mehrfach das Amtsgeheimnis verletzt worden. Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments untersucht den Fall, einzelne Politiker fordern sogar eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) und den Rücktritt von Bundesrat Alain Berset. Es ist eine komplexe Mixtur aus Politik, Juristerei und Medien. Die Medien versichern ihren Lesern und Nutzern unterdessen ihre Unabhängigkeit. Welchen Einfluss haben solche Leaks auf die Medien? Welchen Einfluss hat die Vorab-Berichterstattung auf die Politik? Kann man das abstellen? Oder braucht es Leaks und Indiskretionen? Mein Wochenkommentar zur Medienebene der Coronaleaks.
Mein Name ist Matthias Zehnder – ich gebe Ihnen hier jede Woche zu denken.
Mein Thema: Medien und die Digitalisierung.
Mein Angebot: Konstruktive Kritik.
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In den Schweizer Medien hat derzeit das Wort Affäre Hochkonjunktur. Zuerst war es eine «Corona-Affäre», dann wurde es zur «Berset-Ringier-Affäre», mittlerweile ist es eine «Berset-Affäre». Das Wort Affäre kommt ursprünglich vom französischen Ausdruck avoir à faire, was so viel heisst wie «zu tun haben». Wenn zwei Menschen miteinander ein Verhältnis haben, wenn sie also zu viel miteinander zu tun haben, dann haben sie eine Affäre. Und das ist natürlich skandalös. Mittlerweile hat sich das Wort von der Liebe gelöst, geblieben ist nur das Skandalöse: Eine Affäre ist heute vor allem eine skandalöse Angelegenheit in Politik oder Wirtschaft.
Im Fall der Corona-Berset-Ringier-Affaire steckt auch ein Stück der ursprünglichen Bedeutung des Wortes drin: Das Departement von Bundesrat Alain Berset und der von Marc Walder geführte Ringier-Verlag sollen sich während der Coronakrise näher gekommen sein, als es erlaubt ist. Peter Lauener, der Mediensprecher von Alain Berset, soll Marc Walder, den CEO von Ringier, systematisch mit Vorabinformationen aus dem Departement versorgt haben. So habe Ringier jeweils frühzeitig von geplanten Bundesratsentscheiden gewusst und durch die Publikation im «Blick» den ganzen Bundesrat im Sinne der Coronapolitik von Alain Berset beeinflusst. Deshalb wird die Affäre auch «Corona-Leaks» genannt.
Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für Corona-Skeptiker, für Menschen, die meinen, Politik und Medien würden ohnehin unter einer Decke stecken und für die politischen Gegner von Alain Berset. Es fällt denn auch auf, wie systematisch der SP-Bundesrat von SVP-Politikern und SVP-nahen Medien unter Druck gesetzt wird. Es ist umso erstaunlicher, als noch alles andere als klar ist, was passiert ist, ob und welche Dokumente tatsächlich an den «Blick» weitergereicht wurden und welche Wirkung das Ganze hatte.
Die Affäre hat drei Ebenen.
Da ist zunächst die juristische Ebene. Ihren Anfang nahm die Affäre, weil die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft 2021 eine Untersuchung zu einer ganz anderen Leak-Affäre angeordnet hatte. Es ging um die sogenannten «Crypto-Leaks»: Crypto hiess eine Firma aus Zug, die jahrelang manipulierte Chiffriergeräte verkauft hatte. Dokumente aus der Untersuchung der Firma aus dem Bericht der parlamentarischen Geschäftsprüfungsdelegation gelangten an die Medien. Verdächtigt wurden Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft. Deren Aufsichtsbehörde setzte deshalb einen ausserordentlichen Staatsanwalt ein, um eine mögliche Amtsgeheimnisverletzung zu untersuchen. Bei diesem ausserordentlichen Staatsanwalt handelt es sich um SVP-Mann Peter Marti.
Weil er bei der Bundesanwaltschaft nicht fündig wurde, weitete Marti seine Untersuchung aus. In den Fokus rückten Markus Seiler, Generalsekretär im Aussendepartement, und Michael Steiner, der Sprecher dieses Departements, sowie Peter Lauener, der Sprecher des Departements von Alain Berset. Laut dem Onlinemagazin «Republik» war die Ausweitung dieser Untersuchung rechtlich zumindest zweifelhaft. Denn ausserordentliche Staatsanwälte dürfen nur eingesetzt werden, wenn eine Untersuchung die Bundesanwaltschaft betrifft. Deshalb untersucht mittlerweile Stephan Zimmerli, ein weiterer Sonderermittler, ob Peter Marti seine Kompetenzen überschritten hat. Es ist mit anderen Worten kompliziert.
Die zweite Ebene ist die politische Ebene. Diese Ebene beinhaltet zwei Aspekte. Da ist zum einen die Reaktion der Politik auf die ganze Affäre. Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments will die Sache untersuchen und rasch Ergebnisse liefern. Aber natürlich reagieren auch alle politischen Gegner von SP-Bundesrat Alain Berset. Sie fordern mittlerweile eine Parlamentarische Untersuchungskommission PUK und Alain Bersets Rücktritt. Die Wochenzeitung «WoZ» spricht deshalb von einer «Treibjagd auf Berset» und bringt dabei auch den zweiten Aspekt ins Spiel: Möglicherweise stand die Politik ganz am Anfang der Affäre.
Es ist jedenfalls auffallend, wie oft in der Geschichte das Label SVP auftaucht. Peter Marti sass für die SVP im Zürcher Kantonsrat. Bei der Richterin, die es Marti erlaubte, das Verfahren von den Crypto-Leaks auf die Corona-Mails auszuweiten, handelt es sich um Alexia Heine von der SVP. Als erster berichtete Ex-SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli über die Ausweitung des Verfahrens auf Lauener. Aus dem Verfahren gelangten Unterlagen an die Medien und zwar an den SVP-nahen Patrik Müller von CH Media. Im «Club» des Schweizer Fernsehens forderte schliesslich SVP-Nationalrat Alfred Heer den Rücktritt von Alain Berset. Da ist etwas gar viel SVP im Spiel.
Nun bin ich weder Jurist noch Politiker, sondern Medienwissenschaftler. Mich interessiert deshalb die dritte Ebene der Affäre: die Ebene der Medien. Wie sind die Corona-Leaks publizistisch zu beurteilen? Oder etwas konkreter: Wurden der «Blick» und der «Tages-Anzeiger» von Berset ferngesteuert, wie das die SVP behauptet? Wie nahe stehen sich Medien und Mediensprecher? Welche Bedeutung haben solche «Leaks»? Schauen wir uns diese drei Fragen konkret an.
1) Wurden der «Blick» und der «Tages-Anzeiger» von Berset ferngesteuert?
Sagen wir es so: Das ist äusserst unwahrscheinlich. Viel eher liegt da ein typischer Fall von Post hoc ergo propter hoc vor, also eine Scheinkorrelation. Nur weil der «Tages-Anzeiger» oder der «Blick» während der Coronakrise inhaltlich mit den Forderungen der Mediziner des BAG übereinstimmten, heisst das noch nicht, dass das BAG den «Tagi» oder den «Blick» gesteuert hätten. Die Berichterstattung entsprach wohl eher schlicht dem, was medizinisch damals vernünftig war. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die meisten Mediziner einig waren in der Beurteilung der Coronakrise. Die Unterschiede ergaben sich erst in der Übersetzung der Medizin in die Politik.
Dazu kommt: Es ist eine reichlich naive Vorstellung, zu glauben, mit ein paar Mails an einen CEO lasse sich eine ganze Redaktion steuern. Medienhäuser sind viel weniger hierarchisch aufgebaut als Industrieunternehmen. Ein Geschäftsführer hat inhaltlich auf einer Redaktion erstaunlich wenig zu sagen. Zudem ist so eine Redaktion ein Flohzirkus: Die Hälfte der Redaktorinnen und Redaktoren ist immer anderer Meinung. Das sind kreative Menschen, deren Auftrag es ist, jeweils andere, neue Aspekte einzubringen. Die lassen sich nicht per Maildekret steuern und schon gar nicht über eine längere Zeit. Die Leistung der Medien wird ja vor allem von jenen Politikerinnen und Politikern kritisch beurteilt, die damals nicht mit den Coronamassnahmen von Bund und Kantonen einverstanden waren. Sie dürften ausblenden, dass viele Medienschaffende von sich aus die Massnahmen als vernünftig beurteilt haben.
2) Wie nahe stehen sich Medien und Mediensprecher?
Das ist ein Thema, das immer wieder aufkommt. Die Vorwürfe: Politik und Medien stecken unter einer Decke. Zwischen Mediensprechern und Medienschaffenden komme es zu Kungeleien. Stimmt das? Tatsache ist: Viele Mediensprecher waren vorher Journalisten. Das hat drei Gründe: In vielen Medienhäusern wurden in der Vergangenheit Stellen abgebaut. Medienhäuser sind hierarchisch flach organisiert und können ihren Mitarbeitenden nur wenig Entwicklungsmöglichkeiten anbieten. Und: Medien sind einigermassen oberflächlich. Wer sich vertieft mit einer Sache, einem Thema oder der Politik beschäftigen möchte, wechselt auf die Seite, wo die Themen entstehen.
Das heisst aber noch nicht, dass Sprecher und Journalisten zusammen kungeln und die Bereichterstattung gemeinsam ausjassen. Das kann man im Einzelfall vielleicht nicht ausschliessen, im Allgemeinen arbeiten aber hüben und drüben Berufsleute, die nicht nur über einen hohen Grad an Professionalität verfügen, sondern auch über einen Berufsstolz. Ganz abgesehen davon, dass auf einer Redaktion so viel Sozialkontrolle besteht, dass ein einzelner Journalist, eine einzelne Journalstin nicht systematisch aus der Reihe tanzen kann.
Was aber sicher der Fall ist: Die Schweiz ist klein. Man kennt sich. Ist vielleicht zusammen zur Schule gegangen oder hat sich an der Universität getroffen. Und ehe man sich versieht, ist der eine leitender Redaktor und der andere Regierungssprecher. Oder Regierungsrat. Man arbeitet jahrelang im Bundeshaus und hat immer wieder mit denselben Kommunikationsleuten zu tun. Selbstverständlich tauscht man sich aus und diskutiert miteinander. Das heisst aber noch nicht, dass Medienleute und Kommunikationsleute gemeinsame Sache machen. Meinen Journalisten habe ich immer empfohlen, so lange wie möglich mit der «Gegenseite» per Sie zu bleiben, den Kaffee im Büro einem Apéro an der Bar vorzuziehen und sich nie einspannen zu lassen, auch wenn dafür ein Primeur winkt. Denn das ist für Journalisten die wohl grösste Versuchung. Das bringt uns zur dritten Frage:
3) Welche Bedeutung haben solche «Leaks»?
Neu an der Sache ist nur das Wort: Indiskretionen gibt es wohl schon so lange, wie es Politiker gibt. Politikerinnen und Politiker, aber auch die Mitarbeiter in der Verwaltung haben schon immer versucht, mit gezielten Informationen die Meinung der Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Wichtig ist dabei, dass es ganz unterschiedliche Arten von Enthüllungen gibt.
Da wäre erstens die klassische Recherche: Ein Medium deckt, gegen den Willen der Betroffenen, etwas auf. Eher neuer ist zweitens die Datenrecherche: Ein Hackerteam erbeutet einen riesigen Datensatz, die Daten werden ausgewertet. Die Panama-Papers sind ein Beispiel für eine solche Datenrecherche.
Dann gibt es drittens den Whistleblower: Das ist ein Mensch, der gegen den Willen des Arbeitsgebers Missstände oder Straftaten offenlegt. Ein Beispiel für eine Whistleblowerin ist Frances Haugen, die interne Forschungsdokumente über die Schädlichkeit von Facebook publik gemacht hat.
Und dann gibt es viertens die Indiskretion: Jemand plaudert etwas aus. Ein Journalist erhält eine Information zugesteckt. Es tauchen Mails auf. Es zirkuliert ein Sitzungsprotokoll. Anders als bei einem Whistleblower bleibt der Tippgeber einer Indiskretion fast immer im Dunkeln. Die Öffentlichkeit kann sich deshalb auch kein Bild von seinen Motiven machen. Während ein Whistleblower meist keine konkreten Absichten hat und eher aus Gewissensgründen handelt, steckt hinter einer Indiskretion eine Absicht. Man will beeinflussen, die Debatte in eine bestimmte Richtung lenken.
Warum lassen sich Medien auf solche Indiskretionen ein? Warum lassen sie sich von Politkern, von Kommunikationsleuten und Verwaltungsmitarbeitern über Indiskretionen instrumentalisieren? Weil sie süchtig sind nach Primeurs. Nach einer exklusiven Meldung, die sonst niemand hat. Nach einem Informationsvorsprung. Dieser Vorsprung ist für die allermeisten Medien wichtiger als der konkrete Inhalt der Meldung. Ob es nach links oder nach rechts geht, ist weniger wichtig als der Vorsprung und das Label «exklusiv». Der Primeur ist der Heckspoiler der Journalisten, ihr Doppelauspuff. Und er ist genauso unnötig.
Exklusivität zielt auf Aufmerksamkeit und Verkaufserfolg. Dabei sind die Zeiten, als Zeitungen davon wirklich profitieren konnten, schon lange vorbei. Heute hält ein Informationsvorsprung noch ein paar Minuten, dann ziehen die anderen Medien nach. Doch das hat nicht dazu geführt, dass die Primeurs an Bedeutung verloren haben. Im Gegenteil hat die Hatz nach Exklusivität noch zugenommen. Mein Tipp an Sie als Medienkonsumentin ist deshalb: Misstrauen Sie der Exklusivität. Es könnte sich um eine Indiskretion handeln, hinter der eine politische Absicht steht. Lesen Sie statt die erste, atemlose Nachricht zu einem Thema lieber den abschliessenden Hintergrund dazu. Warten Sie, bis der Staub sich gelegt hat und alle wieder klare Sicht (und einen klaren Kopf) haben. Das gilt auch und gerade für die vorliegende Affäre, die wahrscheinlich eine politische, sicher eine juristische, aber vermutlich keine Medienaffäre ist.
Soviel für heute. Drücken Sie doch noch schnell den Abonnieren und den Gefällt mir Knopf, dann hören wir uns in einer Woche wieder.
Alles Gute.