
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Schreiben im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz
1859 war sich Charles Baudelaire sicher, dass die «Kunst nichts anderes ist und sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur». Er betont das, weil zu dieser Zeit eine neue Technik aufkommt: Die Fotografie bildet die Natur einfacher und genauer ab als jeder Künstler. Baudelaire spottet, die fotografische Industrie sei zur «Zuflucht aller gescheiterten Maler» geworden, der «Unbegabten und der Faulen». Die industrielle Bilderproduktion habe eine «allgemeine Überfütterung», eine «Verblendung und Verdummung» zur Folge. Tatsächlich schlug die Fotografie der Malerei ihre Aufgabe, die Welt abzubilden, aus der Hand. Die Kunstmaler reagierten darauf, indem sie nicht mehr das malten, was ihre Augen sahen, sondern das, was sie spürten und empfanden. So entstanden Impressionismus, Expressionismus und schliesslich die moderne, abstrakte Malerei. Heute stehen wir an einem ähnlichen Punkt: Die textgenerierende Künstliche Intelligenz erledigt, was früher nur Menschen konnten: Sie beschreibt, erklärt, argumentiert, fasst zusammen und formuliert auf Knopfdruck und in industriellem Massstab Texte. Welche Folgen hat das für das Schreiben? Wird ChatGPT jetzt zur «Zuflucht aller gescheiterten Autoren»? Muss sich das künstlerische Schreiben vom Transportieren von Informationen abwenden wie vor 150 Jahren die Malerei von der Wiedergabe der Natur? Wenn Maschinen besser Texte produzieren, was bleibt dem Schreiben?
Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
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