Matthias Zehnders Wochenkommentar
Matthias Zehnders Wochenkommentar
Wer bin ich und wie werde ich besser darin?
Zwischen Selbstwahl und Selbstoptimierung
«Ich bin nicht Stiller.» Mit diesem Satz hat uns Max Frisch einen der stärksten Romananfänge beschert. Zugleich hat er eine Losung ausgegeben: Ich lasse mir von der Gesellschaft nicht vorschreiben, wer ich bin. Als der Roman 1954 erschien, stand Stiller für eine radikale Wende. Die Erfahrung der totalitären Gesellschaft in Nazideutschland und im faschistischen Italien und Spanien steckte den Menschen noch in den Gliedern. Es stellte sich die Frage: Wie kann ein Mensch in einer solchen Gesellschaft er selbst sein? Für Max Frisch und seine Zeitgenossen war klar: Die kollektiven Identitätsentwürfe hatten versagt. Nation, Klasse und Religion taugten nicht mehr als Kompass. In dieses Vakuum stösst Jean-Paul Sartre vor mit einem Satz wie ein Trompetenstoss: «L’homme n'est rien d'autre que ce qu'il se fait.» – «Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht.» Sartre macht das Individuum zum Schöpfer seiner selbst. Er trägt die Verantwortung, sich selbst zu wählen. Genau das tut Stiller, stösst dabei aber auf den Widerstand der Gesellschaft um ihn herum, die ihr Bild von ihm nicht ändern will. Heute, siebzig Jahre nach Stiller, hat sich die Frage verschoben. Nicht mehr die Selbstwahl steht im Zentrum, sondern die Selbstoptimierung. Die Aufforderung lautet nicht mehr: «Werde, was du bist!», sondern: «Werde besser, in dem, was du tust!» Doch wie sollen wir uns optimieren, wenn wir nicht wissen, wer wir sind?
Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
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